Bundessozialgericht

Bundessozialgericht Urteil vom 25.04.2018, B 8 SO 23/16 R

Sozialgerichtliches Verfahren - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Rechtsanwalt - Versäumung der Klagefrist - fristwahrende Abgabe der Klageschrift - nicht zu vertretende Störung des üblichen Übertragungswegs - Einreichung der Klage bei einer anderen inländischen Behörde - keine der unmittelbaren Übermittlung an das zuständige Gericht gleichwertige Möglichkeit - unzulässige Klage gegen Ausgangsbescheid - Entscheidung über neuen Verwaltungsakt iS von § 96 Abs 1 SGG

Leitsätze

1. Mit der fristwahrenden Abgabe einer Klageschrift ua bei einer anderen inländischen Behörde ist keine naheliegende Möglichkeit der Übermittlung an das zuständige Gericht aufgezeigt, die ein Rechtsanwalt bei einer von ihm nicht zu vertretenen Störung des üblichen Übertragungswegs zur Wahrung eigener Sorgfaltspflichten nutzen müsste.

2. Bei einer unzulässigen Klage kann ein abändernder oder ersetzender Verwaltungsakt zum Gegenstand des laufenden Verfahrens werden, über den durch Sachurteil zu entscheiden ist.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. August 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Im Streit ist die Höhe von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Im Revisionsverfahren ist die Zulässigkeit der Klage umstritten.

Die Klägerin bezieht eine Rente wegen vollständiger Erwerbsminderung auf Dauer und daneben von dem beklagten Träger der Sozialhilfe laufend Grundsicherungsleistungen. Unter anderem erließ der Beklagte für die Zeit vom 1.1.2013 bis zum 31.10.2014 einen "Änderungs- und Weitergewährungsbescheid", mit dem er die Grundsicherungsleistungen wegen Änderung des Einkommens und unter Berücksichtigung der tatsächlichen Aufwendungen ua für Unterkunft und Heizung neu berechnete und bewilligte (Bescheid vom 28.10.2013; Widerspruchbescheid vom 30.4.2014). Hiergegen erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Speyer (Az S 3 SO 120/14). Den Bescheid vom 28.10.2013 änderte der Beklagte mit weiteren Bescheiden (zuletzt vom 26.1.2015) ua unter Berücksichtigung einer Rückzahlung von Heizkosten ab. Die Klage nahm die Klägerin am 27.3.2015 zurück.

Zuvor erhöhte die Vermieterin für die von ihr und ihrem Ehemann bewohnte Wohnung die Kaltmiete zum 1.7.2014 von monatlich 410 Euro auf 440 Euro. Den Antrag auf Berücksichtigung entsprechend höherer Bedarfe für Unterkunft und Heizung lehnte der Beklagte mit einem "Bescheid über die Ablehnung von Leistungen" ab; denn eine Kaltmiete von 440 Euro sei nicht angemessen. Es werde daher "weiterhin" die Kaltmiete in Höhe von 410 Euro im Rahmen der Leistungen berücksichtigt werden (Bescheid vom 30.6.2014). Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.

Für den Bewilligungsabschnitt vom 1.11.2014 bis zum 31.10.2015 bewilligte der Beklagte der Klägerin Grundsicherungsleistungen in Höhe von 294,66 Euro monatlich ua unter Berücksichtigung einer angemessenen (anteiligen) Kaltmiete in Höhe von 205 Euro (Bescheid vom 11.11.2014), änderte diesen für die Zeit vom 1.2. bis 31.10.2015 wegen veränderter Abschläge bei den Heizkosten ab und bewilligte nunmehr 302,35 Euro monatlich (Bescheid vom 27.2.2015).

Der Kreisrechtsausschuss des Beklagten hob den Bescheid vom 30.6.2014 auf und verpflichtete den Beklagten ab dem 1.7.2014 zur Neubescheidung unter der Beachtung der Rechtsauffassung des Widerspruchsausschusses. Es sei eine Kaltmiete von 418 Euro als angemessen zu berücksichtigen. Im Übrigen wies er den Widerspruch zurück. Den Widerspruchsbescheid vom 13.5.2015 stellte der Beklagte gegen Empfangsbekenntnis an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin (einen Rechtsanwalt) zu. Der Widerspruchsbescheid war mit der Belehrung versehen, es könne innerhalb von einem Monat ab Zustellung Klage erhoben werden. Der Prozessbevollmächtigte stellte mit Schreiben vom 18.5.2015 unter Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid einen Kostenantrag beim Beklagten.

Am 18.6.2015 um 10.53 Uhr übersandte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin eine E-Mail an das SG und teilte mit, dass die Übersendung einer Klageschrift per Telefax nicht möglich gewesen sei. Er übersandte im Anhang eine eingescannte, unterschriebene Klageschrift gegen den Bescheid vom 30.6.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.5.2015 im Portable Document Format (PDF). Die Geschäftsstelle des SG druckte den Anhang zur E-Mail aus und versah ihn mit einem Eingangsstempel vom selben Tag. Das Original der Klageschrift ging am 19.6.2015 per Post ein.

Noch vor Erhebung der Klage änderte der Beklagte gestützt auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) die Bescheide vom 28.10.2013, 11.11.2014, 26.1.2015 und 27.2.2015 und bewilligte der Klägerin "aufgrund des Widerspruchsbescheides" für die Zeit vom 1.7.2014 bis zum 31.10.2015 Grundsicherungsleistungen in Höhe von 306,35 Euro unter Berücksichtigung ua einer Kaltmiete in Höhe von 209 Euro (Bescheid vom 3.6.2015). Für die Zeit ab dem 1.7.2015 änderte er die Bewilligung wegen einer Veränderung des Einkommens erneut und bewilligte Leistungen in Höhe von 297,86 Euro monatlich (Bescheid vom 27.7.2015).

Das SG und das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz haben die Klage als unzulässig angesehen (Gerichtsbescheid des SG vom 23.11.2015; Urteil des LSG vom 4.8.2016). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des SG ausgeführt, die Übersendung einer einfachen E-Mail mit einem angehängten PDF-Dokument genüge nicht dem Schriftformerfordernis des § 90 Sozialgerichtsgesetz (SGG), auch wenn der Anhang im Gericht noch am Tag des Fristablaufs ausgedruckt vorlegen habe. § 65a SGG, der die formwirksame Klageerhebung auf elektronischem Weg von einer qualifizierten Signatur abhängig mache, sei abschließend und schließe eine andere Auslegung des § 90 SGG aus. Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren, weil den Bevollmächtigten der Klägerin am Tag des Fristablaufs erhöhte Sorgfaltspflichten träfen und von ihm insbesondere zu verlangen gewesen sei, die Klage gestützt auf § 91 SGG bei einer inländischen Behörde am Ort der Kanzlei einzulegen.

Hiergegen wendet sich die Klägerin und macht eine Verletzung von §§ 87, 90 SGG geltend. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), die auch im Anwendungsbereich des § 90 SGG gelten müsse, sei die vollständig eingescannte, als PDF versandte und rechtzeitig ausgedruckte Klageschrift als fristgerechter schriftlicher Eingang anzusehen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. August 2016 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist die Klage nicht wegen der Versäumung der Klagefrist als unzulässig abzuweisen; es ist jedenfalls Wiedereinsetzung in die Klagefrist zu gewähren. Die Klage ist auch im Übrigen zulässig. Es fehlen aber ausreichende Feststellungen des LSG in der Sache.

Die Revision wie auch die Berufung sind zulässig. Insbesondere bedurfte es keiner Zulassung der Berufung; denn die Berufung betrifft laufende Leistungen für mehr als ein Jahr (vgl § 144 Abs 1 Satz 2 SGG). Die Klägerin hat mit ihrer Klage höhere Leistungen ab dem 1.7.2014 geltend gemacht. Unabhängig davon, ob dieses Begehren wegen der abschnittsweisen Bewilligung dieser Leistungen (als Teil der Grundsicherungsleistungen) sinnvollerweise auf die Zeit bis zum 31.10.2015 begrenzt werden sollte, weil nur insoweit die Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind (dazu später), sind laufende Leistungen von mehr als einem Jahr im Streit.

Ob die Klagefrist des § 87 Abs 1 Satz 1 SGG versäumt ist, obwohl die unterschriebene, eingescannte und sodann als Anhang einer E-Mail an das SG gesandte Klageschrift noch am Tag des Fristablaufs vollständig ausgedruckt beim SG vorlag, kann offenbleiben (ablehnend Bundessozialgericht <BSG> BSGE 122, 71 = SozR 4-1500 § 65a Nr 3 für den Fall, dass das eingescannte Exemplar nicht unterschrieben ist; anders dagegen BGH Beschluss vom 15.7.2008 - X ZB 8/08 - NJW 2008, 2649 ff und Beschluss vom 18.3.2015 - XII ZB 424/14 - NJW 2015, 1527 ff für unterschriebene, eingescannte und am Tag des Fristablaufs vollständig ausgedruckte Schriftsätze). Der Klägerin ist jedenfalls auch bei Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Nach § 67 Abs 1 SGG ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Die Klagefrist von einem Monat, die bei der hier von der Behörde gewählten Zustellung nach den Vorschriften des Landesverwaltungszustellungsgesetzes (LVwZG) mit dem Tag der Zustellung des mit einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Widerspruchsbescheids zu laufen beginnt (vgl § 87 Abs 1 iVm Abs 2 SGG), ist am 18.6.2015 abgelaufen. Das Original der Klageschrift ging aber erst am 19.6.2015 per Post beim SG ein. Der Nachweis einer Zustellung ist vorliegend zwar nicht zu den Akten gelangt. Mit der Stellung eines Kostenantrags unter Bezugnahme auf den tatsächlichen Erhalt des Widerspruchsbescheids am 18.5.2015 durch den Prozessbevollmächtigten ist der Mangel des Nachweises der Zustellung aber geheilt (§ 1 Abs 1 LVwZG iVm § 8 Verwaltungszustellungsgesetz <VwZG>). Die Klägerin hat vorliegend die (unterstellte) Versäumung der Klagefrist um einen Tag nicht verschuldet. Kausal für die Versäumung der Klagefrist um einen Tag war allein die Störung des Faxeingangs bei Gericht; mit der Aufgabe der Klageschrift zur Post noch am Tag der gescheiterten Übersendung per Fax hat ihr Prozessbevollmächtigter alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um weitere Verzögerungen zu verhindern. Da die Verfahrenshandlung innerhalb der (Monats-)Frist des § 67 Abs 2 Satz 1 SGG nachgeholt worden ist, kann Wiedereinsetzung auch von Amts wegen gewährt werden (§ 67 Abs 2 Satz 4 SGG).

Nach gefestigter Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) als auch der obersten Bundesgerichte dürfen die aus den technischen Gegebenheiten des Kommunikationsmittels Telefax herrührenden besonderen Risiken nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden. Dies gilt insbesondere für Störungen des Empfangsgeräts des Gerichts (BVerfG, NJW 1996, 2857; BVerfG NJW 2001, 3473; BGH, NJW 1995, 1431, 1432; BGH NJW-RR 2004, 283, 284; BGH Beschluss vom 21.7.2011 - IX ZB 218/10, Juris RdNr 2 mwN). Der Nutzer hat mit der Wahl eines anerkannten Übermittlungsmediums, der ordnungsgemäßen Nutzung eines funktionsfähigen Sendegeräts und der korrekten Eingabe der Empfängernummer das seinerseits zur Fristwahrung Erforderliche getan, wenn er so rechtzeitig mit der Übermittlung beginnt, dass unter normalen Umständen mit ihrem Abschluss bis zum Ablauf der Frist zu rechnen ist. Erkennt der Bevollmächtigte eines Beteiligten, der sich und seine organisatorischen Vorkehrungen darauf eingerichtet hat, einen Schriftsatz durch Telefax zu übermitteln, dass er einen Schriftsatz auf diese Weise nicht mehr fristgerecht an das zuständige Gericht übermitteln kann, steht es der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dann grundsätzlich nicht entgegen, dass er den Schriftsatz in anderer Weise noch rechtzeitig hätte übermitteln können. Um eine Ungleichbehandlung mit einem Prozessbevollmächtigten zu verhindern, der seinen Schriftsatz erst kurz vor Fristablauf fertigt und versendet, muss der Beteiligte in diesen Fällen nicht unter erheblichem Zeit- und Kostenaufwand alle nur denkbaren Anstrengungen unternehmen, um einen fristgerechten Eingang beim Gericht doch noch sicherzustellen, sondern nur einen naheliegenden, kaum zusätzlicher Mühe erfordernden Übermittlungsversuch (vgl nur BVerfG, NJW 1996, 2857, 2858; BGH Beschluss vom 21.7.2011 - IX ZB 218/10, aaO).

Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung nach diesen Grundsätzen liegen vor. Nach der Auskunft des Leiters der Geschäftsstelle des SG und den von ihm vorgelegten Faxprotokollen war das SG über 5 Tage, nämlich vom 16.6.2015 abends bis zum 23.6.2015 nachmittags, per Telefax nicht erreichbar. Es oblag dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin, dem dies am 18.6.2015, dem Tag des Fristablaufs bekannt wurde, weder zum Gerichtsort zu fahren und die Klageschrift beim SG persönlich einzuwerfen noch einen Kurierdienst zu beauftragen, auch wenn für beides ausreichend Zeit gewesen wäre (vgl dazu bereits BVerfG, NJW 1996, 2857, 2858). Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist mit § 91 SGG, der zur Wahrung der Klagefrist - abweichend von den übrigen Prozessordnungen - auch den Eingang der an das SG gerichteten Klageschrift ua bei einer anderen inländischen Behörde genügen lässt, ebenfalls keine naheliegende Möglichkeit der Übermittlung an das zuständige Gericht aufgezeigt, die ein Rechtsanwalt bei einer von ihm nicht zu vertretenen Störung des üblichen Übertragungswegs zur Wahrung eigener Sorgfaltspflichten nutzen müsste. § 91 SGG dient allein dem Schutz rechtsunkundiger Kläger, für die die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes erleichtert werden soll; einem mit der Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten befassten Anwalt soll aber gerade nicht die planmäßige Einreichung einer Klageschrift am Ort seiner Kanzlei auf diesem Weg ermöglicht werden (vgl BSG SozR 3-1500 § 91 Nr 1 S 3 f). Da eine inländische Behörde (jedenfalls wenn es sich - wie bei den hier in Betracht kommenden Behörden - nicht um eine Sozialbehörde handelt) zur Entgegennahme der Klageschrift nicht verpflichtet ist (BSG aaO) und also der Rechtsanwalt vorab prüfen müsste, ob die jeweilige Behörde im Einzelfall zur Entgegennahme auch bereit ist, stellt § 91 SGG keinen Weg der Einreichung einer Klage dar, der sich aus Sicht des Anwalts der unmittelbaren Übermittlung an das SG als gleichwertig darstellt. Nur auf solche Wege kann bei Prüfung der Gründe für eine Wiedereinsetzung aber verwiesen werden. Ebenso wenig gehört auch die Klageerhebung bei einem unzuständigen Gericht, bei dem die Sache rechtshängig (§ 94 Abs 1 SGG) und damit die Klagefrist gewahrt wird, zu den üblichen Übertragungswegen, die bei Störung des Empfangsgeräts des Gerichts zur Wahrung der prozessualen Sorgfaltspflichten zu nutzen sind.

Die Klage ist auch im Übrigen zulässig.

Zulässiger Gegenstand der Anfechtungs- und Leistungsklage ist insoweit allerdings nur der Bescheid vom 3.6.2015, mit dem der Beklagte als örtlich und sachlich zuständige Behörde ausdrücklich sämtliche bis dahin für die Zeit vom 1.7.2014 bis zum 31.10.2015 ergangenen, zuvor bestandskräftig gewordenen Bewilligungsbescheide zugunsten der Klägerin geändert hat, weitere Leistungen bewilligt und damit (zugleich) die Zahlung höherer Leistungen abgelehnt hat, sowie der in der Folge ergangene Bescheid für die Zeit ab dem 1.7.2015 (vom 27.7.2015). Die Möglichkeiten der Überprüfung der vorangegangenen bestandskräftig gewordenen Leistungsbewilligungen nach den Regelungen der §§ 44, 48 SGB X sind insoweit der Ausgangsbehörde vorbehalten; die Widerspruchsbehörde, die in Rheinland-Pfalz abweichend von § 85 Abs 2 Satz 2 Halbsatz 1 SGG nicht auch die Ausgangsbehörde ist (vgl § 4 Abs 1 Nr 1a des Ausführungsgesetzes zum SGG <AGSGG>, hier idF von Art 1 des Gesetzes vom 22.12.2004 <GVBl 581>), hat kein Selbstentscheidungsrecht. Der Kreisrechtsausschuss konnte (was er auch zutreffend erkannt hat) wegen seiner funktionalen und sachlichen Unzuständigkeit selbst keine (ändernde) Regelung über die streitige Höhe der Leistung treffen, die ihrerseits (isoliert) Gegenstand einer (kombinierten Anfechtungs- und) Leistungsklage hätte sein können (anders aber bei Identität von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde, vgl BSG Urteil vom 25.10.2017 - B 14 AS 35/16 R -, SozR 4-4200 § 11 Nr 82 RdNr 12 ff, zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).

Dabei ist der Bescheid vom 3.6.2015 nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden (zur Abgrenzung von § 96 SGG zu § 86 SGG für die Zeit zwischen Erlass des Widerspruchsbescheids und Klageerhebung nur Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 96 RdNr 3a mwN); denn er trifft eine neue, nicht nur wiederholende Regelung bezogen auf den Streitgegenstand, über den die Widerspruchsbehörde entschieden hat, und ersetzt die Entscheidung vom 30.6.2014 vollständig (vgl § 39 SGB X). Über ihn ist deshalb im vorliegenden Klageverfahren zu entscheiden, ohne dass es seiner erneuten Überprüfung in einem Vorverfahren bedarf. Dies gilt auch, wenn die Klage gegen den Bescheid vom 30.6.2014 unzulässig, weil nicht statthaft wäre (zu dieser Möglichkeit sogleich), weil auch eine unzulässige Klage die für die Anwendung des § 96 Abs 1 SGG erforderliche Rechtshängigkeit begründet (vgl etwa BSG Urteil vom 24.9.1992 - 9a RV 39/91 - juris RdNr 14). Insoweit ist Voraussetzung für eine "Änderung" iS des § 96 Abs 1 SGG lediglich, dass der Ausgangsbescheid Gegenstand eines anhängigen Gerichtsverfahrens ist (zu dieser Voraussetzung Becker in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl 2014, § 96 RdNr 26; Schmidt, aaO, § 96 RdNr 2a). Folglich kann bei einer - letztlich durch Prozessurteil abzuweisenden - unzulässigen Klage bezüglich des angefochtenen Ausgangsbescheids ein neuer abändernder oder ersetzender Verwaltungsakt auf Grundlage von § 96 Abs 1 SGG zum Gegenstand des laufenden Verfahrens werden, über den durch Sachurteil zu entscheiden ist (vgl Klein in jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 96 RdNr 17 unter Hinweis auf BSGE 18, 84, 85). Ob anderes gilt, wenn die Klage verspätet erhoben wird (dazu Bienert NZS 2011, 732, 733), braucht nicht entschieden zu werden. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

Damit kann offenbleiben, ob der Bescheid vom 30.6.2014 mit seiner Bekanntgabe seinerseits Gegenstand des zu diesem Zeitpunkt noch beim SG anhängigen Klageverfahrens (S 3 SO 120/14) gegen den Bescheid vom 28.10.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.4.2014 geworden ist. In diesem Fall hätte der Bescheid vom 30.6.2014 zulässigerweise (und unabhängig davon, dass er in dem ersten Verfahren unter Verkennung der Rechtslage tatsächlich nicht einbezogen worden ist) nicht erneut zum Gegenstand eines Widerspruchsverfahrens gemacht werden können; dies hätte zur Folge gehabt, dass auch die folgende Klage unzulässig gewesen wäre, weil der Widerspruch von vornherein nicht statthaft gewesen wäre (vgl BSG SozR 4-4300 § 323 Nr 1 RdNr 27; BSG SozR 3-1500 § 87 Nr 1 S 5). Die mit Rücknahme der ersten Klage eingetretene Bestandskraft hätte die Widerspruchsbehörde - wie ausgeführt - durch ihre Entscheidung auch nicht durchbrechen dürfen. Allerdings ist die Rechtsprechung des BSG zu § 96 Abs 1 SGG für die Fälle uneinheitlich, in denen ein Bescheid ergeht, der während des laufenden Klageverfahrens, gerichtet auf höhere Leistungen, eine begünstigende Änderung nach § 48 SGB X bezogen auf den Streitgegenstand des Klageverfahrens ablehnt. Der 4. Senat des BSG sieht den unmittelbaren Anwendungsbereich des § 96 SGG (unter Bezugnahme auf die ältere Rechtsprechung) als eröffnet an, weil die vorgenommene neue Sachprüfung es rechtfertige, auch eine solche Entscheidung wie eine Änderung oder Ersetzung iS von § 96 Abs 1 SGG zu behandeln (vgl BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 11). Ob der Senat sich dieser Rechtsprechung zu § 96 SGG anschließt oder mit der Rechtsprechung des 9. Senats (vgl BSG SozR 4-1300 § 48 Nr 26 RdNr 27) § 96 SGG in der seit dem 1.4.2008 geltenden Fassung für nicht anwendbar hält, weil von dem Bescheid, der eine Änderung nach § 48 SGB X ablehnt, eine zusätzliche Beschwer bezogen auf das anhängige Klageverfahren nicht ausgeht, bedarf keiner abschließenden Entscheidung; denn vorliegend ist die Klage - wie ausgeführt - nach Erlass des Bescheids vom 3.6.2015 in jedem Fall zulässig.

Für die Zeit ab dem 1.7.2015 hat schließlich der Bescheid vom 27.7.2015 die Regelung vom 3.6.2015 ersetzt (vgl erneut § 96 Abs 1 SGG). Da die beiden zulässigerweise angefochtenen Bescheide lediglich den Zeitraum vom 1.7.2014 bis zum 31.10.2015 regeln und Bescheide wegen der weiteren Bewilligungsabschnitte (zur abschnittsweisen Bewilligung von Grundsicherungsleistungen vgl § 44 Abs 3 SGB XII) nicht (insbesondere im Wege einer Klageerweiterung nach § 99 SGG) in das Verfahren einbezogen worden sind, können höhere Leistungen für die Zeit ab dem 1.11.2015 nicht zulässiger Streitgegenstand sein. Auf eine entsprechende Beschränkung des Klageantrags in zeitlicher Hinsicht wird das LSG nach Zurückverweisung hinzuwirken haben, bevor es in der Sache entscheidet.

Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

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