Bundessozialgericht

Bundessozialgericht Urteil vom 07.05.2019, B 11 AL 18/18 R

Arbeitslosengeldanspruch - Mindestbemessungsentgelt - Bewilligung von Arbeitslosengeld in den letzten 2 Jahren vor Anspruchsentstehung - Nichtauszahlung des Arbeitslosengeldes wegen Ruhens - Entstehung eines Stammrechts

Leitsätze

Hat innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld ein Stammrecht auf Arbeitslosengeld bestanden, ist Bemessungsentgelt mindestens das der Berechnung des Arbeitslosengelds aus diesem Stammrecht zugrunde liegende Entgelt.

Tenor

Der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 8. Mai 2018 sowie das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. Januar 2018 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 16. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2014 verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 2014 bis 31. Juli 2014 höheres Arbeitslosengeld unter Berücksichtigung eines Bemessungsentgelts von 136,58 Euro täglich zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten in allen Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt für die Zeit vom 1.1.2014 bis 31.7.2014 höheres Alg. Im Streit ist, ob der Berechnung anstelle des Verdienstes aus der letzten anwartschaftsbegründenden Beschäftigung das Bemessungsentgelt aus einem früher erworbenen Stammrecht zugrunde zu legen ist.

Das Arbeitsverhältnis der Klägerin, die seit März 1979 bei der Deutschen Telekom AG beschäftigt war, endete am 31.5.2012 durch Aufhebungsvertrag gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 215 589,83 Euro. Zum 1.6.2012 meldete sich die Klägerin arbeitslos und beantragte Alg. Die Beklagte bewilligte Alg (erst) ab 21.4.2013 in Höhe eines täglichen Leistungsbetrages von 47,78 Euro, ausgehend von einem täglichen Bemessungsentgelt von 136,58 Euro (Bescheid vom 23.8.2012). Vom 1.6.2012 bis 20.4.2013 ruhe der Anspruch wegen des Eintritts von Sperrzeiten und wegen der Berücksichtigung der Entlassungsentschädigung. Nachdem die Klägerin bereits am 15.11.2012 eine bis zum 31.12.2013 andauernde befristete Beschäftigung aufgenommen hatte, hob die Beklagte die Bewilligung auf (Bescheid vom 15.11.2012), ohne dass es zu einer Auszahlung von Alg gekommen war.

Zum 1.1.2014 meldete sich die Klägerin erneut arbeitslos und beantragte Alg, das die Beklagte für die Zeit ab 1.1.2014 in Höhe eines täglichen Leistungsbetrages von 28,30 Euro auf der Grundlage eines täglichen Bemessungsentgelts von 70,12 Euro bewilligte (Bescheid vom 16.1.2014; Widerspruchsbescheid vom 30.1.2014). Der Leistungsbezug der Klägerin endete zum 31.7.2014 wegen der Aufnahme einer neuen Beschäftigung zum 1.8.2014. Klage und Berufung, gerichtet auf höheres Alg unter Berücksichtigung des der Bewilligung aus 2012 zugrunde liegenden Bemessungsentgelts, blieben erfolglos (Urteil des SG Berlin vom 8.1.2018; Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 8.5.2018). Zur Begründung führten die Vorinstanzen aus, die Klägerin habe am 1.1.2014 ein (neues) Stammrecht auf Alg erworben. Für die Bemessung der Leistung sei der Verdienst im einjährigen Bemessungsrahmen vom 1.1.2013 bis 31.12.2013 maßgebend. Eine Bemessung nach § 151 Abs 4 SGB III unter Berücksichtigung des höheren Bemessungsentgelts der früheren Bewilligung habe nicht zu erfolgen, denn dies setze einen tatsächlichen Alg-Bezug in den letzten zwei Jahren vor der Entstehung des neuen Alg-Anspruchs voraus, der hier nicht vorliege.

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 151 Abs 4 SGB III. Die Vorschrift sei vorliegend anwendbar, denn es genüge, dass ein Stammrecht auf Alg bestanden habe, das nach einem höheren Bemessungsentgelt bemessen worden sei. Dass die Leistung tatsächlich zumindest für einen Tag ausgezahlt worden sein müsse, finde keine zwingende Stütze in Wortlaut oder Systematik der Norm. Dies widerspräche auch dem Ziel, einen Anreiz zu schaffen, eine neue Beschäftigung aufzunehmen, ohne Gefahr zu laufen, im Falle erneuter Arbeitslosigkeit bei Erwerb eines neuen Anspruchs eine geringere Lohnersatzleistung zu erhalten.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Beschlusses des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 8. Mai 2018 sowie des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 8. Januar 2018 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 16. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2014 zu verurteilen, ihr vom 1. Januar 2014 bis 31. Juli 2014 ein höheres Arbeitslosengeld nach dem mit Bescheid vom 24. Juli 2012 zugrunde gelegten höheren Bemessungsentgelt von 136,58 Euro täglich zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält den Beschluss des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Entgegen der Auffassung von SG und LSG besteht ein Anspruch der Klägerin auf höheres Alg für den streitbefangenen Zeitraum.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 16.1.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.1.2014. Gegen diesen Bescheid wendet sich die Klägerin zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGG). Sie begehrt für den Zeitraum vom 1.1.2014 bis 31.7.2014 höhere Geldleistungen, was auch im Höhenstreit dem Grunde nach (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG), also ohne exakte Bezifferung, zulässig ist (vgl zuletzt BSG vom 21.6.2018 - B 11 AL 8/17 R - SozR 4-4300 § 150 Nr 4 RdNr 10; BSG vom 23.10.2018 - B 11 AL 21/17 R - RdNr 13).

Es besteht ein Anspruch der Klägerin auf höheres Alg vom 1.1.2014 bis 31.7.2014, denn der Bemessung des Alg ist ein Bemessungsentgelt in Höhe von 136,58 Euro anstelle von 70,12 Euro zugrunde zu legen. Die - auch in einem Höhenstreit stets zu prüfenden (stRspr; vgl nur BSG vom 21.6.2018 - B 11 AL 8/17 R - SozR 4-4300 § 150 Nr 4 RdNr 12; BSG vom 23.10.2018 - B 11 AL 21/17 R - RdNr 14) - Anspruchsvoraussetzungen für Alg liegen dem Grunde nach vor. Der Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit setzt gemäß § 137 SGB III (anwendbar ist hier das SGB III in der seit dem 1.4.2012 geltenden Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 - BGBl I 2854) voraus, dass Arbeitnehmer (1.) arbeitslos sind, (2.) sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und (3.) die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Die Klägerin hat sich zum 1.1.2014 arbeitslos gemeldet (§ 141 SGB III) und ist nach dem Gesamtzusammenhang der tatsächlichen Feststellungen des LSG arbeitslos iS von § 138 SGB III gewesen.

Die Klägerin erfüllt auch die Anwartschaftszeit. Diese hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (§ 142 Abs 1 SGB III). Die Rahmenfrist beträgt im Grundsatz zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg (§ 143 Abs 1 SGB III). Sie reicht allerdings nicht in eine vorangegangene Rahmenfrist hinein, in der die oder der Arbeitslose die Anwartschaftszeit erfüllt hatte (§ 143 Abs 2 SGB III). Danach verläuft die Rahmenfrist hier vom 1.6.2012 bis 31.12.2013, denn in der Zeit vor dem 1.6.2012 liegt eine vorangegangene Rahmenfrist mit erfüllter Anwartschaftszeit. Aufgrund der Arbeitslosmeldung zum 1.6.2012, der Beantragung von Alg und dem Eintritt von Arbeitslosigkeit war diese vorangegangene Anwartschaftszeit Grundlage eines ab dem 1.6.2012 bestehenden Stammrechts auf Alg (näher dazu sogleich). Eine neue Anwartschaftszeit hat die Klägerin zum 1.1.2014 gleichwohl erfüllt, denn sie stand auch innerhalb dieser verkürzten Rahmenfrist mehr als zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis, nämlich vom 15.11.2012 bis 31.12.2013.

Zu Unrecht hat die Beklagte das Alg ab 1.1.2014 aber nur in Höhe von täglich 28,30 Euro, ausgehend von einem täglichen Bemessungsentgelt von 70,12 Euro, gewährt. Zwar fehlen konkrete Feststellungen des LSG zum abgerechneten Verdienst der Klägerin in dem zu berücksichtigenden Bemessungsrahmen, sodass dem Senat eine Überprüfung der Höhe dieses Bemessungsentgelts im Einzelnen nicht möglich ist. Einer Zurückverweisung der Streitsache an das LSG, um diese Feststellungen nachzuholen, bedarf es indes nicht, denn nach § 151 Abs 4 SGB III ist hier ohnehin das von der Klägerin geltend gemachte Bemessungsentgelt in Höhe von 136,58 Euro täglich zu berücksichtigen.

Die Höhe des Alg bestimmt sich nach § 149 SGB III, wonach das Alg für Arbeitslose, abhängig davon, ob sie ein Kind iS des § 32 Abs 1, 3 bis 5 EStG haben, 60 % (allgemeiner Leistungssatz) oder 67 % (erhöhter Leistungssatz) des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt) beträgt, das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt). Der Bemessungszeitraum umfasst die beim Ausscheiden aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltzeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen (§ 150 Abs 1 SGB III). Das Bemessungsentgelt ist das durchschnittlich auf den Tag entfallende beitragspflichtige Arbeitsentgelt, das die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (§ 151 Abs 1 Satz 1 SGB III). Haben Arbeitslose aber innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs Alg bezogen, ist Bemessungsentgelt mindestens das Entgelt, nach dem das Alg zuletzt bemessen worden ist (§ 151 Abs 4 SGB III).

Ein solcher Fall des § 151 Abs 4 SGB III liegt hier vor. Der Klägerin war innerhalb der letzten zwei Jahre vor dem 1.1.2014 - der Entstehung des hier streitbefangenen Anspruchs auf Alg - bereits Alg zuerkannt worden, das nach einem täglichen Bemessungsentgelt von 136,58 Euro zu bemessen war, was sich aus dem Bescheid vom 23.8.2012 ergibt. Zwar ruhte dieser Anspruch vom 1.6.2012 bis 30.8.2012 wegen des Eintritts von Sperrzeiten und darüber hinaus bis zum 20.4.2013 wegen des Erhalts einer Entlassungsentschädigung, sodass wegen der Arbeitsaufnahme durch die Klägerin zum 15.11.2012 keine Auszahlung von Alg erfolgte. Jedenfalls aber war zum 1.6.2012 ein so genanntes Stammrecht der Klägerin auf Alg entstanden.

Ein solches Stammrecht zeichnet sich dadurch aus, dass es zwar noch nicht dazu berechtigt, eine bestimmte Leistung - ggf vollstreckbar - beanspruchen zu können, es begründet aber bereits einen zu einem subjektiven Recht verfestigten Besitzstand, wenn alle gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Alg vorliegen (ausführlich dazu Valgolio in Spellbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 10 RdNr 1 ff; Coseriu in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 147 RdNr 26 f, Stand Dezember 2014; Gutzler in Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III, 6. Aufl 2017, § 136 RdNr 4; aus der Rechtsprechung zuletzt BSG vom 13.3.2018 - B 11 AL 23/16 R - SozR 4-4300 § 162 Nr 1 RdNr 15; BSG vom 21.6.2018 - B 11 AL 8/17 R - SozR 4-4300 § 150 Nr 4 RdNr 26; BSG vom 30.8.2018 - B 11 AL 2/18 R - RdNr 10). Bereits mit dem Entstehen eines Stammrechts wird ein Sozialrechtsverhältnis zwischen dem Leistungsberechtigten und dem Sozialleistungsträger begründet, das Grundlage verschiedener Rechte und Pflichten bzw Obliegenheiten auch unabhängig von konkreten Leistungsansprüchen ist (Valgolio in Spellbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 10 RdNr 1). Der typische Fall eines Stammrechts mit fehlendem Leistungsanspruch ist das Ruhen des Anspruchs auf Alg trotz bestehender Arbeitslosigkeit. Während des Ruhens bestehen gleichwohl Rechte und Pflichten, etwa das Recht des Arbeitslosen auf Förderung aus dem Vermittlungsbudget (§ 44 SGB III) oder auf Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung (§ 45 SGB III). Dem stehen ua die Pflicht bzw Obliegenheit gegenüber, sich der Arbeitsvermittlung zur Verfügung zu stellen oder sich nach Maßgabe des § 309 SGB III bei der BA melden zu müssen.

Ein solches Stammrecht der Klägerin war hier am 1.6.2012 entstanden. Die Klägerin hat sich zum 1.6.2012 arbeitslos gemeldet, Alg beantragt, erfüllte die Anwartschaftszeit und war auch arbeitslos. Es lagen damit alle Anspruchsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit vom 1.6.2012 bis 14.11.2012 vor, was sich aus den entsprechenden Bescheiden der Beklagten (zuletzt Bescheid vom 23.8.2012) ergibt.

Nach Sinn und Zweck des § 151 Abs 4 SGB III und unter Berücksichtigung der systematischen Zusammenhänge gilt Alg im Sinne dieser Vorschrift bereits als "bezogen", wenn innerhalb des Zweijahreszeitraums ein Stammrecht auf Alg bestanden hat. Schrifttum und Rechtsprechung fordern zwar für den "Bezug" von Alg, dass es tatsächlich zu einer Auszahlung gekommen ist (LSG NRW vom 17.11.2010 - L 12 AL 153/10 - RdNr 45; LSG Sachsen-Anhalt vom 23.6.2011 - L 2 AL 23/10 - RdNr 27; Brand in Brand, SGB III, 8. Aufl 2018, § 151 RdNr 23; Rolfs in Gagel, SGB II/SGB III, § 151 SGB III RdNr 35, Stand Juni 2017; Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 151 RdNr 110, Stand April 2014). Doch ist dies nach der Bedeutung des Wortes "bezogen" nicht zwingend (vgl LSG NRW vom 17.11.2010 - L 12 AL 153/10 - RdNr 49). Der Wendung "Bezug von Alg" kann, je nachdem, in welchem Sinnzusammenhang sie steht, unterschiedlich verstanden werden. So hat das BSG angenommen, dass es für eine Leistungsfortzahlung im Krankheitsfall (§ 105b AFG, ersetzt durch § 126 SGB III aF bzw § 146 SGB III), die an eine während des Bezugs von Alg eintretende Arbeitsunfähigkeit anknüpft, bereits das Bestehen eines realisierbaren Anspruchs ausreichen kann (vgl BSG vom 2.11.2000 - B 11 AL 25/00 R - RdNr 21; BSG vom 7.2.2002 - B 7 AL 28/01 R - RdNr 16; BSG vom 20.2.2002 - B 11 AL 59/01 R - RdNr 16, 17). Grund hierfür ist eine ansonsten nicht beabsichtigte Begrenzung des Anwendungsbereichs der Vorschrift, also im Ergebnis der Sinn und Zweck der Leistungsfortzahlung im Krankheitsfall (vgl Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 146 RdNr 49, Stand Juli 2013).

Wenn im Übrigen die angeführte Rechtsprechung ein Stammrecht ohne Auszahlungsanspruch gerade nicht ausreichen lässt - in den entschiedenen Fällen ruhte der Zahlungsanspruch aus dem Stammrecht wegen einer Urlaubsabgeltung - wird auch dies mit der spezifischen Zielrichtung der Leistungsfortzahlung im Krankheitsfall begründet. Die Regelung soll weder eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des erkrankten Arbeitslosen noch eine Entlastung der für die Zahlung des Krankengeldes zuständigen Krankenkasse herbeiführen, sondern Leistungsberechtigten wie Leistungsverpflichteten bei kurzfristigen Erkrankungen die Unzuträglichkeit ersparen, dass anstelle der Beklagten eine Krankenkasse Krankengeld in der gleichen Höhe wie das bisher gewährte Alg zahlt (BSG vom 2.11.2000 - B 11 AL 25/00 R - RdNr 22 mwN). Für die Auslegung des ganz andere Zwecke verfolgenden § 151 Abs 4 SGB III ist diese Einschränkung allerdings ohne Bedeutung.

Gleiches gilt, soweit das BSG im Rahmen der Anwendung von § 124 Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB III in der bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung, wonach für die Ermittlung der Anwartschaftszeit bzw Rahmenfrist der "Bezug" bestimmter Leistungen von Pflegepersonen erforderlich war, diesen Begriff eng ausgelegt hat (vgl BSG vom 29.10.2008 - B 11 AL 13/07 R - SozR 4-4300 § 124 Nr 5 RdNr 15 ff). Abgesehen davon, dass die entsprechende Regelung bereits zum 1.1.2004 aufgehoben wurde, betraf auch sie einen vollständig anderen Regelungszusammenhang mit ebenfalls abweichender Zielrichtung (dazu im Einzelnen Söhngen in Eicher/Schlegel, SGB III <aF>, § 124 RdNr 3, 43 ff, Stand August 2004).

Sinn und Zweck des § 151 Abs 4 SGB III fordern demgegenüber, bereits dann von einem Alg-Vorbezug auszugehen, wenn ein Stammrecht auf Alg entstanden ist. § 151 Abs 4 SGB III entspricht dem bis zum 31.3.2012 geltenden § 131 Abs 4 SGB III. Jene Vorschrift ist zum 1.1.2014 durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 (BGBl I 2848) eingefügt worden und geht auf § 133 Abs 1 SGB III idF des AFRG vom 24.3.1997 (BGBl I 594) zurück. Die damals vorgenommene Ergänzung der Bemessungsvorschriften um eine Bestandschutzregelung ist damit begründet worden, dass Arbeitslose, die ihre Arbeitslosigkeit durch die Aufnahme einer Beschäftigung beenden, in der sie ein geringeres Entgelt erzielen, als es der Bemessung des Alg zugrunde lag, vor Nachteilen bei erneutem Beschäftigungsverlust geschützt werden sollten; zudem sollten Hemmnisse, die einer Rückkehr in das Erwerbsleben entgegenstehen könnten, beseitigt werden (BT-Drucks 13/4941, S 178). Dieser Schutz war ursprünglich bei einen Alg-Bezug innerhalb der letzten drei Jahre vorgesehen, reichte also noch weiter. Als Grund für die Verkürzung des Zeitrahmens ab dem 1.1.2014 auf zwei Jahre ist allein eine Verwaltungsvereinfachung genannt worden (BT-Drucks 15/1515, S 85).

Dieses also im Vordergrund stehende Bestreben, Arbeitslose zu motivieren, auch geringer entlohnte Beschäftigungen aufzunehmen, kommt bereits dann zum Tragen, wenn nur ein Stammrecht auf Alg erworben wurde, die Leistung aber noch nicht ausgezahlt wird, weil Ruhenstatbestände vorliegen (vgl Brackelmann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl 2019, § 151 RdNr 30.1). Es würde dem zentralen Ziel der Arbeitsförderung, die Arbeitslosigkeit zu verkürzen (§ 1 Abs 1 Satz 1 SGB III), zuwiderlaufen, wenn es für Arbeitslose sogar von Nachteil sein könnte, sich auch um geringer entlohnte Beschäftigungen zu bemühen, weil ein Verlust des Schutzes des bisherigen Bemessungsentgelts droht. Anders als das LSG und die Beklagte meinen, ist es in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung, ob der Arbeitslose seinen Lebensunterhalt bereits durch Alg sichergestellt hat. Zum einen ist dies bei Ruhenstatbeständen notwendigerweise trotz bestehenden Stammrechts nicht der Fall. Zum Anderen dürften für Arbeitslose, die noch nicht auf Alg angewiesen sind, etwa weil - wie auch hier - noch finanzielle Mittel aus einer Abfindung zur Verfügung stehen, eher stärkerer Anreize erforderlich sein, die Arbeitslosigkeit auch durch die Annahme einer schlechter bezahlten Beschäftigung zu beenden.

Vor diesem Hintergrund wäre es zudem, wie die Revision zu Recht ausführt, mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG nur schwer vereinbar, jemanden, der bereits ein Stammrecht erworben hat, schlechter zu stellen als jemanden, dem aus diesem Stammrecht, wenn auch nur für einen Tag, Alg ausgezahlt wurde. Ein Sachgrund für diese Ungleichbehandlung ist kaum ersichtlich, denn ein Arbeitsloser, dessen Leistungsanspruch ruht, ist den gleichen Obliegenheiten unterworfen, wie ein Arbeitsloser, der Leistungen bezieht.

Aus systematischen Gründen spricht für die Anknüpfung schon an das Stammrecht, dass das SGB III Bestandsschutz bezogen auf früher bewilligtes Alg nicht nur mit Blick auf die Höhe des Bemessungsentgelts und damit auf die Höhe der Leistung, sondern auch hinsichtlich der Anspruchsdauer vorsieht. Nach § 161 Abs 1 Nr 1 SGB III erlischt der Anspruch auf Alg zwar mit der Entstehung eines neuen Anspruchs. Doch sieht § 147 Abs 4 SGB III vor, dass sich die Dauer des neuen Anspruchs um die Restdauer des erloschenen Anspruchs - in den Grenzen der Höchstanspruchsdauer - verlängert. Mit dieser Regelung soll ebenfalls ein Anreiz zur Arbeitsaufnahme geboten und verhindert werden, dass dem Arbeitslosen durch die Aufnahme einer Beschäftigung bei erneuter anschließender Arbeitslosigkeit Nachteile entstehen (vgl Coseriu in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 147 RdNr 44, Stand September 2014; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB III, K § 147 RdNr 64, Stand Januar 2014). Dieser Mechanismus greift bereits, wenn (nur) ein Stammrecht auf Alg entstanden war, denn die Vorschrift stellt ab auf den "Anspruch" auf Alg. Ein Anspruch aber besteht auch dann, wenn es zu keiner Auszahlung der Leistung kommt, etwa weil der Anspruch ruht (vgl nur Coseriu in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 147 RdNr 27, Stand September 2014). In Anwendung dieser Grundsätze ist der Klägerin deshalb Alg unter Anwendung von § 147 Abs 4 SGB III für einen längeren Zeitraum bewilligt worden, als es der Dauer ihrer letzten anwartschaftsbegründenden Beschäftigung von weniger als 16 Monaten (nach § 147 Abs 2 SGB III nur 6 Monate) entsprochen hätte. Es wäre systematisch unstimmig und im Hinblick auf das Regelungsziel zudem inkonsequent, wenn es für den Bestandsschutz der Anspruchsdauer allein auf das Stammrecht ankommen, der Bestandsschutz des Bemessungsentgelts aber von der zusätzlichen Voraussetzung des tatsächlichen Leistungsbezugs abhängen sollte.

Bei der danach gebotenen Anwendung von § 151 Abs 4 SGB III steht der Klägerin höheres Alg als täglich 28,30 Euro zu, denn diesen Leistungsbetrag hat die Beklagte ausgehend von einem täglichen Bemessungsentgelt von (nur) 70,12 Euro ermittelt. Demgegenüber beträgt das nach § 151 Abs 4 SGB III zu berücksichtigende Bemessungsentgelt täglich 136,58 Euro.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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