Bundessozialgericht

Bundessozialgericht Urteil vom 03.09.2020, B 14 AS 37/19 R

Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Dreipersonenhaushalt in Berlin - Angemessenheitsprüfung - Nichtvorliegen eines schlüssigen Konzepts - Ermittlung der abstrakten Angemessenheitswerte durch das Gericht - Überprüfung der tatsächlichen Verfügbarkeit angemessener Unterkünfte - keine Notwendigkeit der Beiladung des Landes Berlin

Leitsätze

Bestimmt ein Gericht selbst abstrakte Angemessenheitswerte für die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, muss es sich davon überzeugen, dass Wohnraum zu diesen Werten in hinreichender Anzahl tatsächlich verfügbar ist.

Tenor

Auf die Revisionen der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. März 2018 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Umstritten sind für April 2011 die Bedarfe für Unterkunft der Höhe nach.

Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 sind Lebensgefährten. Der 1995 geborene Kläger zu 3 ist der Sohn der Klägerin zu 2. Sie lebten gemeinsam in einer 82,34 qm großen Mietwohnung in Berlin. Im April 2011 betrugen die Nettokaltmiete 456,65 Euro, die Vorauszahlungen auf Betriebskosten 184,03 Euro und die Vorauszahlungen auf Heizkosten 83,79 Euro. Jedenfalls seit Januar 2010 bezogen die Kläger Alg II durch das beklagte Jobcenter. Mitte Januar 2010 forderte der Beklagte sie zur Senkung auf seiner Ansicht nach angemessene Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 542 Euro auf und erklärte seine Absicht, ab Februar 2011 nur noch diesen Betrag bei der Anspruchsberechnung zu berücksichtigen. Ua für April 2011 bewilligte der Beklagte den Klägern Alg II nur noch mit Bedarfen für Unterkunft und Heizung in der vorgenannten Höhe.

Das SG hat die bei ihm für den Zeitraum April bis September 2011 verfahrensgegenständlichen Bescheide abgeändert bzw aufgehoben und den Beklagten verurteilt, den Klägern ua für April 2011 weitere Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 53,79 Euro zu zahlen. Die auf die Übernahme aller Aufwendungen für Unterkunft und Heizung gerichteten Klagen hat es im Übrigen abgewiesen (Urteil vom 22.1.2015). Auf das Urteil hat der Beklagte die Änderung vorangegangener Bescheide gestützt und den Klägern Alg II unter Berücksichtigung von Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 595,79 Euro bewilligt (Bescheid vom 2.2.2015). Das LSG hat die Berufungen der Kläger vom 16.2.2015 zurückgewiesen (Urteil vom 15.3.2018): Der Bescheid vom 2.2.2015 sei Gegenstand des Verfahrens und regle mehr als die Umsetzung des Urteils des SG. Bei den Aufwendungen für Unterkunft gälten von ihm selbst - anhand eines im SG Berlin entwickelten Modells - festgelegte Angemessenheitswerte auf der Grundlage des Berliner Mietspiegels 2011. Bei einer abstrakt angemessenen Wohnfläche von 80 qm ermittle sich der Wert von 512 Euro (4,86 Euro/qm Nettokaltmiete und 1,54 Euro/qm Betriebskosten). Dieser Betrag sei nicht weiter anzuheben. Er gewährleiste Aktualität wegen seiner Anbindung an den Mietspiegel und der Auswertung alle zwei Jahre. Der Mietspiegel sei qualifiziert. Damit sei grundsätzlich davon auszugehen, dass Wohnungen zum angemessenen Quadratmeterpreis verfügbar seien. Das von den Klägern zum Mietrechtsnovellierungsgesetz zitierte Thesenpapier des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung zeige zwar aufgrund einer Auswertung des Mietspiegels für 2013 seit 2010 einen deutlichen Preisauftrieb bei den Angebotsmieten. Indes müssten Angebotsmieten nicht berücksichtigt werden. Der Preisanstieg nach seinem Berechnungsmodell zwischen den Mietspiegeln von 2009 (4,62 Euro/qm) und 2013 (5,01 Euro/qm) erfordere keine vorzeitige Anpassung der Angemessenheitswerte. Beweisanträgen der Kläger sei nicht nachzugehen gewesen, weil Beweiserhebungen offenkundig überflüssig seien oder es sich um Beweisermittlungsanträge gehandelt habe. Die Heizkosten seien in tatsächlicher Höhe angemessenen.

Mit ihren vom Senat zugelassenen Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung von § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II. Der herangezogene Mietspiegel sei kein qualifizierter Mietspiegel. Dass ausreichend Wohnraum zu aus ihm abgeleiteten Preisen verfügbar sei, habe das LSG nicht vermuten dürfen. Jedenfalls sei eine Vermutungswirkung aufgrund der Marktentwicklung erschüttert. Ihr Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt, weil sich das LSG nicht ausreichend mit ihrem Sachvortrag auseinandergesetzt habe. Außerdem sei die Ablehnung der Beweisanträge zur Verfügbarkeit von Wohnraum und Qualifiziertheit des Mietspiegels verfahrensrechtwidrig.

In einem Teilvergleich haben die Beteiligten den Streitgegenstand auf den Monat April 2011 beschränkt und sich hinsichtlich der übrigen strittigen Zeit dem Ausgang des Verfahrens für diesen Monat unterworfen.

Die Kläger beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. März 2018 zu ändern und den Beklagten unter Änderung seines Bescheids vom 2. Februar 2015 zu verurteilen, ihnen Leistungen für die Unterkunft und Heizung unter Anerkennung von Bedarfen für die Unterkunft von 640,68 Euro für April 2011 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässigen Revisionen der Kläger sind im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat nicht entscheiden, ob bei den Klägern höhere Aufwendungen als Bedarfe für Unterkunft anzuerkennen sind und daher weiteres Alg II zu zahlen ist.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist neben dem Urteil des LSG nur noch der Bescheid des Beklagten vom 2.2.2015 für April 2011 sowie das Begehren der Kläger, für diesen Monat höheres Alg II bezogen auf die Leistungen für Unterkunft und Heizung zu erhalten. Die übrigen, ursprünglich ebenfalls umstrittenen Monate sind nicht mehr Gegenstand des Verfahrens; insofern haben die Beteiligten einen Unterwerfungsvergleich geschlossen.

Der Bescheid vom 2.2.2015 hat die vorangegangenen Bescheide des Beklagten ersetzt (§ 39 Abs 2 SGB X) und ist Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden (§ 96 Abs 1 iVm § 153 Abs 1 SGG), über den das LSG auf Klage zu entscheiden hatte. Wie das LSG zutreffend erkannt hat, ist der Bescheid vom 2.2.2015 kein Ausführungsbescheid zum Urteil des SG, weil er als "Änderungsbescheid" die Ansprüche der Kläger auf Alg II insgesamt regelt, während das SG nur über weitere Leistungen für Unterkunft und Heizung entschieden hat.

In der Sache ist das Verfahren beschränkt auf die Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung (vgl zur Abtrennbarkeit des auf diese Leistungen bezogenen Verfügungssatzes auch nach dem 31.12.2010 nur BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 42/13 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 78 RdNr 10 f), wobei der Beklagte zuletzt die vollen Aufwendungen für Heizung als Bedarfe berücksichtigt hat.

2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Die Kläger verfolgen ihr Begehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), zulässigerweise gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG). Das Grundurteil ist auch hinsichtlich der zwischen den Beteiligten allein strittigen Höhe der anzuerkennenden Bedarfe für Unterkunft zulässig (vgl zuletzt ua BSG vom 12.12.2019 - B 14 AS 26/18 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 106 RdNr 12). Die Voraussetzungen für seinen Erlass sind erfüllt, weil die Kläger Ansprüche auf höheres Alg II haben, wenn ihrem Vorbringen zur Übernahme aller Aufwendungen für Unterkunft gefolgt wird.

Die nicht erfolgte Beiladung des Landes Berlin ist kein von Amts wegen zu beachtender Verfahrensmangel. Die echte notwendige Beiladung (§ 75 Abs 2 Alt 1 SGG) wegen seiner Trägerschaft für das Alg II im in § 6 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB II genannten Umfang scheidet aus, weil der Beklagte in seinem Zuständigkeitsbereich die Aufgaben des Landes Berlin wahrnimmt (vgl § 44b Abs 1 Satz 2 SGG). Damit ist das Land Berlin kein Dritter, in dessen Rechtssphäre ein Urteil unmittelbar eingreifen könnte, erhielten die Kläger höhere Leistungen. Wegen der Wahrnehmung der Aufgaben des kommunalen Trägers durch den Beklagten in seinem Zuständigkeitsbereich scheidet eine Beiladung nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG aus. Die vom Beklagten angeregte einfache Beiladung gemäß § 75 Abs 1 Satz 1 SGG kommt im Revisionsverfahren nicht in Betracht (§ 168 Satz 1 SGG).

3. Rechtsgrundlage von Ansprüchen der Kläger auf höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung im April 2011 gegen das beklagte Jobcenter sind §§ 19, 22 SGB II in der ab 1.4.2011 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011 (BGBl I 850). Denn in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungszeiträume ist das damals geltende Recht anzuwenden (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f). Nach diesen Vorschriften erhalten die Kläger als nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG dem Grunde nach Leistungsberechtigte nach dem SGB II Alg II, das ua die jeweiligen (zum Individualanspruch grundlegend BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 12 ff) Bedarfe für Unterkunft und Heizung abdeckt.

4. Zur Bestimmung des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft ist von den tatsächlichen Aufwendungen auszugehen (BSG vom 22.9.2009 - B 4 AS 8/09 R - BSGE 104, 179 = SozR 4-4200 § 22 Nr 24, RdNr 15 ff); sie werden in dieser Höhe anerkannt, soweit sie angemessen sind (§ 19 Abs 1 Satz 1 und 3, § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II).

Bei dem entscheidenden gesetzlichen Tatbestandsmerkmal "Angemessenheit" in § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff (stRspr: vgl zuletzt BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - BSGE 127, 214 = SozR 4-4200 § 22 Nr 101, RdNr 16), das die Leistungspflicht des Jobcenters begrenzt (vgl BSG vom 7.5.2009 - B 14 AS 14/08 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 20 RdNr 26). Gegen die Verwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs bestehen keine durchgreifenden Bedenken, zumal zur Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Angemessenheit des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II auch die Regelungen der §§ 22a bis 22c SGB II zu berücksichtigen sind (BVerfG vom 6.10.2017 - 1 BvL 2/15, 1 BvL 5/15 - RdNr 17; BSG vom 12.12.2017 - B 4 AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = SozR 4-4200 § 22 Nr 93, RdNr 17 f; BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - BSGE 127, 214 = SozR 4-4200 § 22 Nr 101, RdNr 17).

5. Die Ermittlung des angemessenen Umfangs der Aufwendungen für die Unterkunft hat in zwei größeren Schritten zu erfolgen: Zunächst sind die abstrakt angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft, bestehend aus Nettokaltmiete und kalten Betriebskosten (= Bruttokaltmiete), zu ermitteln; dann ist die konkrete (= subjektive) Angemessenheit dieser Aufwendungen im Vergleich mit den tatsächlichen Aufwendungen, insbesondere auch im Hinblick auf die Zumutbarkeit der notwendigen Einsparungen, einschließlich eines Umzugs, zu prüfen (stRspr seit BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 24 f; zuletzt BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - BSGE 127, 214 = SozR 4-4200 § 22 Nr 101, RdNr 19; vgl zur aktuellen Literatur Lauterbach in Gagel, SGB II/SGB III, § 22 SGB II RdNr 33 ff, Stand 3/2019; Piepenstock in jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 22 RdNr 95 ff).

6. Wie das BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden und der Senat in seinen Entscheidungen vom 30.1.2019 konkretisiert und zusammengefasst hat, hat die Ermittlung der abstrakt angemessenen Aufwendungen unter Anwendung der Produkttheorie in einem mehrstufigen Verfahren zu erfolgen: (1) Bestimmung der (abstrakt) angemessenen Wohnungsgröße für die leistungsberechtigte(n) Person(en) (dazu a), (2) Bestimmung des angemessenen Wohnungsstandards (dazu b), (3) Ermittlung der aufzuwendenden Nettokaltmiete für eine nach Größe und Wohnungsstandard angemessene Wohnung in dem maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum nach einem schlüssigen Konzept (dazu c), (4) Einbeziehung der angemessenen kalten Betriebskosten (vgl zur Produkttheorie grundlegend BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 18/06 R - BSGE 97, 254 = SozR 4-4200 § 22 Nr 3, RdNr 20; zuletzt BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - BSGE 127, 214 = SozR 4-4200 § 22 Nr 101, RdNr 20). Nur soweit es kein schlüssiges Konzept des Jobcenters gibt, ist es Sache der Gerichte, selbst Angemessenheitswerte zu bestimmen.

a) Die vom LSG getroffene Feststellung, für eine durch drei Personen gebildete Bedarfsgemeinschaft im Land Berlin sei in Mietwohnungen eine Wohnfläche von 80 qm angemessen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (§ 163 SGG).

b) Zum angemessenen Wohnungsstandard lassen sich dem Urteil des LSG keine Ausführungen entnehmen. Insoweit wird das LSG weiter zu bestimmen haben, welche Wohnungen hinsichtlich ihrer Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen entsprechen und keinen gehobenen Wohnungsstandard aufweisen (vgl BSG vom 6.8.2014 - B 4 AS 37/13 R - RdNr 22; vgl zur Relativität des angemessenen Standards Berlit in Münder, SGB II, 6. Aufl 2017, § 22a RdNr 27, 28).

c) Im Anschluss wird das LSG die abstrakten Angemessenheitswerte für Nettokaltmiete und Betriebskosten zu bestimmen haben, weil der Beklagte für April 2011 kein schlüssiges Konzept erstellt hat und sich nicht in der Lage sieht, dies noch nachzuholen.

Ausgangspunkt der Prüfung sind bei einem schlüssigen Konzept der Verwaltung die auf diesem Konzept beruhenden abstrakten Angemessenheitswerte. Dass ein solches schlüssiges Konzept im Rahmen einer Verwaltungsvorschrift für April 2011 nicht besteht, hat das LSG unangegriffen unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG (zur AV-Wohnen vgl ua BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 50/10 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 42 RdNr 26) festgestellt. Seinen Ausführungen lässt sich indes nicht entnehmen, ob es dem Beklagten (vergeblich) Gelegenheit gegeben hat, Beanstandungen zu den behördlich festgelegten Angemessenheitswerten auszuräumen (BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - BSGE 127, 214 = SozR 4-4200 § 22 Nr 101, RdNr 27, 28). Ausnahmsweise kommt es darauf nicht an. Denn der Beklagte hat im Revisionsverfahren die Möglichkeit einer Nachbesserung für den vorliegenden Fall verneint (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 163 RdNr 5d; Hauck in Hennig, SGG, § 163 RdNr 83, Stand 12/2018).

7. Auch wenn dem Beklagten die Erstellung oder Nachbesserung eines schlüssigen Konzepts nicht möglich ist, ist das LSG nur nach den folgenden Maßgaben berechtigt, eigene abstrakte Angemessenheitswerte festzulegen. Gerichte sind zwar zur Herstellung der Spruchreife der Sache verpflichtet, aber nicht befugt, ihrerseits ein schlüssiges Konzept - ggf mit Hilfe von Sachverständigen - zu erstellen (BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - BSGE 127, 214 = SozR 4-4200 § 22 Nr 101, RdNr 29, 31).

Zur Herstellung der Spruchreife bei der Bestimmung abstrakt angemessener Aufwendungen für Unterkunft kann das Gericht nur auf schon vorhandene Datengrundlagen zurückgreifen. Diese Datengrundlagen müssen die vergleichsraumbezogene, zeit- und realitätsgerechte Bestimmung abstrakter Angemessenheitswerte gewährleisten können (dazu a). Zugleich hat sich das Gericht davon zu überzeugen, dass für den von ihm festgelegten abstrakten Angemessenheitswert Wohnraum in hinreichender Anzahl tatsächlich verfügbar ist. Denn dieser Wert muss nicht nur geeignet sein, abstrakt angemessene Unterkunftskosten für die aktuell bewohnte Unterkunft zu definieren. Er stellt im Grundsatz auch die Höhe der Aufwendungen dar, zu der bei einem zur Kostensenkung erforderlichen Umzug (vgl § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II) innerhalb des örtlichen Vergleichsraums unabhängig von den Umständen des Einzelfalls neuer - kostenangemessener - Wohnraum angemietet werden können muss (dazu b). Sieht das Gericht keine Möglichkeit, unter diesen Vorgaben abstrakte Angemessenheitswerte selbst festzulegen, bleibt der Rückgriff auf die Beträge aus § 12 WoGG.

a) Es ist Sache der Gerichte, selbst abstrakt angemessene Aufwendungen für Unterkunft zu bestimmen, soweit ein schlüssiges Konzept nicht besteht. Dass nur angemessene Aufwendungen als Bedarfe zu berücksichtigen sind, gibt der Gesetzgeber als Kern der Regelung des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II vor (vgl Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, K § 22 RdNr 69, Stand 10/2012) und aus verfassungsrechtlichen Gründen ist die Berücksichtigung aller unterkunftsbezogener Aufwendungen nicht geboten (vgl BVerfG vom 10.10.2017 - 1 BvR 617/14 - NJW 2017, 3770 RdNr 19).

In Abfolge der Prüfung abstrakter und konkreter Angemessenheit ist zunächst der Betrag für die abstrakt angemessenen Aufwendungen für Unterkunft zu bestimmen. Dieser Betrag kann trotz begrenzter Amtsermittlungspflicht (vgl BSG vom 16.6.2015 - B 4 AS 44/14 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 85 RdNr 19) durch die Gerichte festgelegt werden. Wesentliche Faktoren sind durch normative Entscheidungen bestimmt (angemessene Wohnungsgröße) oder vorgeprägt (Vergleichsraum) (vgl BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - BSGE 127, 214 = SozR 4-4200 § 22 Nr 101, RdNr 23). Die möglichen Erkenntnisquellen sind mit der durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 (BGBl I 453) eingefügten Regelung des § 22c Abs 1 SGB II beispielhaft vorgegeben. Insoweit nennt der Katalog des § 22c Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB II als Erkenntnisquellen für die Bestimmung des Angemessenheitswerts Mietspiegel, qualifizierte Mietspiegel und Mietdatenbanken. Dass der Gesetzgeber diese Erkenntnisquellen allgemein für geeignet angesehen hat, Grundlage der Festlegung von Angemessenheitswerten zu sein, ergibt sich aus der Formulierung des § 22c Abs 1 Satz 1 SGB II. Soweit in ihnen keine Daten zusammengefasst sind, die sich auf die Betriebskosten als Teilelement abstrakt angemessener Unterkunftskosten beziehen, eröffnet § 22c Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB II die Möglichkeit, auf andere örtliche oder ggf überörtliche Betriebskostenübersichten (zB den vom Deutschen Mieterbund für das gesamte Bundesgebiet aufgestellten Übersichten) zurückgreifen. Falls zur zeitnahen Abbildung der maßgeblichen Verhältnisse im örtlichen Vergleichsraum erforderlich, können rechnerische Korrekturen vorgenommen werden (so schon BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 2/10 R - RdNr 29).

b) Bestimmt ein Gericht selbst abstrakt angemessene Aufwendungen für Unterkunft, muss es sich davon überzeugen (§ 128 Abs 1 SGG), dass Wohnraum zu dem von ihm bestimmten Betrag in hinreichender Anzahl tatsächlich verfügbar ist.

Die richterliche Betragsbestimmung trägt anders als die Bestimmung abstrakter Angemessenheitswerte durch ein behördliches Konzept, das die Anforderungen des BSG an die Schlüssigkeit erfüllt, die Gewähr der Richtigkeit nicht in sich. Ihre Grundlage ist die Orientierung an konkreten Erkenntnisquellen, die im Grundsatz geeignet sind, die maßgeblichen Gegebenheiten im örtlichen Vergleichsraum abzubilden. Dass eine (erste) gerichtliche Betragsbestimmung durch ein in allen Punkten hinreichend geeignetes Verfahren getragen wird, was Grundlage der Bewertung eines Konzepts der Verwaltung als schlüssig ist (vgl zur WAV BSG vom 17.10.2013 - B 14 AS 70/12 R - BSGE 114, 257 = SozR 4-4200 § 22a Nr 1, RdNr 38 mwN), ist nicht vorgegeben. Eine - unter weiteren Voraussetzungen - auf der Datengrundlage "Mietspiegel" bestehende Vermutung für die Verfügbarkeit von Wohnraum wirkt auf der Ebene der konkreten Angemessenheit (vgl BSG vom 13.4.2011 - B 14 AS 106/10 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 46 RdNr 30, 32). Sie setzt voraus, dass der abstrakte Angemessenheitswert rechtsfehlerfrei festgesetzt worden ist.

Die Summe aus Kaltmiete und Betriebskosten kann nur dann einen zutreffend gebildeten abstrakten Angemessenheitswert darstellen, wenn in Betracht kommender Wohnraum zu diesem Preis auch tatsächlich in nennenswerter Zahl auf dem Markt allgemein zugänglich angeboten wird (vgl Lauterbach in Gagel, SGB II/SGB III, § 22 SGB II RdNr 50, 64, Stand 3/2019) und damit generell verfügbar ist. Wegen der im Verhältnis von § 22 Abs 1 Satz 1 zu § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II angelegten Risikozuweisung obliegt es nicht erst den Leistungsberechtigten, zur generellen Anmietbarkeit von Wohnraum im örtlichen Vergleichsraum vorzutragen (allgemein zur Verfügbarkeit von Wohnraum als Element der abstrakten Angemessenheit schon BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 2/10 R - RdNr 19, 22; zuletzt Urteil des Senats vom heutigen Tag im Verfahren B 14 AS 34/19 R).

Insbesondere wenn, wie das LSG hier festgestellt hat, in einem mehrjährigen Zeitraum nicht nur die Angebotsmieten deutlich gestiegen sind, sondern von 2009 bis 2013 schon nach dem von ihm zugrunde gelegten Berechnungsmodell für angemessene Nettokaltmieten (mit den Tabellenmittelwerten des Mietspiegels für einfache Wohnlagen) eine deutliche Erhöhung stattgefunden hat, besteht Anlass, die eigene (vorläufige) Bewertung von tatsächlichen Aufwendungen als abstrakt unangemessen zu überprüfen und ggf zu korrigieren.

Diesen Anforderungen genügt die angegriffene Entscheidung nicht. Das LSG hat zur Bestimmung der angemessene Nettokaltmiete auf im Einzelnen bezeichnete Teile des Urteils des SG Bezug genommen, was grundsätzlich zulässig ist (vgl zur zulässigen Teilbezugnahme im Rahmen des § 153 Abs 2 SGG BSG vom 1.8.2017 - B 13 R 179/17 B - RdNr 6 mwN; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 153 RdNr 7). Nach seiner Ansicht bilden die gewichteten Mittelwerte der Tabellenfelder für einfache Wohnlagen die abstrakt angemessenen Nettokaltmieten ab. Dabei bezieht sich das LSG auf einen Aufsatz, in dem ein Vorschlag als Ausgangspunkt für eine einheitliche Rechtsprechung bei der Beurteilung angemessener Unterkunftskosten in Berlin vorgestellt worden ist (Schifferdecker/Irgang/Silbermann, ARCHIV für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 2010, S 28 ff) sowie auf das Senatsurteil vom 19.10.2010 (B 14 AS 2/10 R), aus dem sich ergeben soll, dass nicht die Spannenoberwerte, sondern die Mittelwerte der einfachen Wohnlage zugrunde zu legen seien.

Dem Senatsurteil vom 19.10.2010 kann nicht entnommen werden, dass nach dem vom LSG verwendeten Modell ermittelte Beträge abstrakt angemessen sind. Der Senat hatte wegen einer Zurückverweisung ausgeführt, das LSG werde zu prüfen haben, ob sich aus den Grundlagendaten des Mietspiegels oder anderen Quellen weitergehende Schlüsse grundsicherungsspezifischer Art ziehen ließen. Sodann hatte er zum Ergebnis weitergehender Auswertungen durch den Träger der Grundsicherung erläutert und zuletzt die Möglichkeit der Bestimmung eines gewichteten arithmetischen Mittelwerts für ein mathematisch-statistisch nachvollziehbares Konzept - um das es hier nicht geht - dargestellt. Die vorhergehend formulierte Anforderung, letztlich sei entscheidend, ob im konkreten Vergleichsraum eine "angemessene Wohnung" für den Fall anzumieten sei, dass die Bestandswohnung unangemessen teuer sei (RdNr 22), hat der Senat dadurch nicht eingeschränkt oder relativiert. Sie bezieht sich zudem auf die gesamten Aufwendungen für Unterkunft, sodass für die generelle Verfügbarkeit von Wohnungen die Summe aus Nettokaltmiete und Betriebskosten Prüfungsmaßstab ist.

Die Setzung des LSG, der Betrag für die abstrakte Angemessenheit sei aufgrund der gewichteten Mittelwerte der Tabellenfelder des Berliner Mietspiegels zu bestimmen, hält der revisionsgerichtlichen Prüfung auch nicht stand, wenn die Begründung seines Rechenmodells herangezogen wird. Aus der angeführten "Überzeugung, dass mit der Einbeziehung der mittleren durchschnittlichen Mietspiegelwerte in gewichteten Anteilen die potenziell zumutbare und damit abstrakt angemessene Kaltmiete am gerechtesten bestimmt werden kann" (Schifferdecker/Irgang/ Silbermann, ARCHIV für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 2010, S 34), ergibt sich keine generelle Verfügbarkeit von Wohnraum.

Ob sich gerichtlich ein abstrakt angemessener Betrag für die Aufwendungen für Unterkunft vor dem Rückgriff auf die Werte aus § 12 WoGG (vgl BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - BSGE 127, 214 = SozR 4-4200 § 22 Nr 101, RdNr 30) bestimmen lässt, wird das LSG im Rahmen der ihm vorbehaltenen tatrichterlichen Beweiswürdigung zu befinden haben.

8. Soweit mit der Revision Verfahrensmängel beim LSG geltend gemacht sind, bedarf es dazu keiner Entscheidung. Bereits die auf § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II bezogene Sachrüge führt zur Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG.

Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

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