Bundessozialgericht

Bundessozialgericht Urteil vom 29.06.2023, B 1 KR 35/21 R

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Februar 2021 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 19. November 2020 zurückgewiesen. 

Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Streitig ist die Versorgung mit dem Arzneimittel Translarna (Ataluren). 

Der 2004 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger leidet an einer Duchenne-Muskeldystrophie (DMD) infolge Nonsense-Mutation des Dystrophin-Gens (nmDMD). Hierbei handelt es sich um eine genetisch bedingte, fortschreitende und typischerweise im frühen Erwachsenenalter tödliche Erkrankung. Der Kläger ist seit 2015 nicht mehr gehfähig. Am 4.7.2019 beantragte er die Kostenübernahme für das Arzneimittel Translarna. Dieses ist in der Europäischen Union (EU) für die Behandlung der DMD infolge einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen bei gehfähigen Patienten im Alter ab zwei (bis Juli 2018 ab fünf) Jahren zugelassen. Der pharmazeutische Unternehmer beantragte bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) am 29.8.2018 eine Erweiterung der Indikation von Translarna auf gehunfähige Patienten bei nmDMD. Die EMA empfahl durch den Ausschuss für Humanarzneimittel, den Antrag abzulehnen (Gutachten des Ausschusses für Humanarzneimittel <Committee for Medicinal Products for Humane Use - CHMP> vom 27.6.2019). Nachdem auch ein weiterer Antrag ablehnend begutachtet wurde (Gutachten des CHMP vom 17.10.2019), verfolgte der pharmazeutische Unternehmer das Verfahren auf Zulassungserweiterung nicht weiter. Auf Empfehlung des CHMP wurde im Juli 2020 in der Fachinformation für Translarna die Aussage "Bei nicht gehfähigen Patienten wurde keine Wirksamkeit nachgewiesen" gestrichen. Nach der hierzu veröffentlichten Pressemitteilung des Herstellers sollte dies den behandelnden Ärzten ermöglichen, aufgrund ihrer klinischen Bewertung über die Weiterbehandlung ihrer Patienten zu entscheiden, die unter Translarna ihre Gehfähigkeit verloren hätten. Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Kostenübernahme für Translarna ab (Bescheid vom 1.8.2019; Widerspruchsbescheid vom 28.1.2020)

Das SG hat die Klage auf Versorgung mit Translarna abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 19.11.2020). Das LSG hat die SG-Entscheidung aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger unter Abgabe einer Kostenübernahmeerklärung mit Translarna zu versorgen. Der Anspruch ergebe sich aus § 2 Abs 1a SGB V. Die Versorgung des nicht mehr gehfähigen Klägers mit Translarna verspreche eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Verlauf der Erkrankung. Die Erweiterung der Indikation sei aufgrund einer nicht aussagekräftigen Datenlage abgelehnt worden, nicht aufgrund eines negativen Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Die weitere wissenschaftliche Erforschung der Wirksamkeit von Translarna habe seither neue Hinweise auf eine positive Wirkung erbracht. Die Ablehnung der Indikationserweiterung entfalte daher keine Sperrwirkung (Urteil vom 4.2.2021)

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 2 Abs 1a SGB V. Nach der Rspr des BSG entfalte die Ablehnung einer Zulassungserweiterung eine Sperrwirkung; dem seien Fälle gleichgestellt, in denen der Hersteller - wie hier - einen Antrag auf Zulassungserweiterung im Hinblick auf ein negatives Gutachten des CHMP nicht weiterverfolge. Ein Anspruch nach § 2 Abs 1a SGB V scheide daher aus. 

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Februar 2021 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 19. November 2020 zurückzuweisen. 

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen. 

Er hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Translarna. Der Anspruch besteht weder nach den für zugelassene Arzneimittel geltenden Vorschriften (§ 27 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Alt 1 SGB V iVm § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V, dazu A.), noch nach § 35c SGB V oder den allgemeinen Grundsätzen der Rspr zum Off-Label-Use (dazu B.), noch nach § 2 Abs 1a SGB V (dazu C.).

A. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Translarna nach den für zugelassene Arzneimittel geltenden Vorschriften (§ 27 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Alt 1 SGB V iVm § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V)

Der Anspruch auf Versorgung mit zugelassenen Arzneimitteln setzt voraus, dass das Arzneimittel in demjenigen Indikationsgebiet eingesetzt werden soll, auf das sich die Arzneimittelzulassung erstreckt (stRspr; vgl zB BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 12; BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 12/04 R - BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, RdNr 22; BSG vom 26.9.2006 - B 1 KR 1/06 R - BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 15). Die arzneimittelrechtliche Zulassung kann sich aus innerstaatlichem Recht oder aus dem EU-Recht ergeben (vgl etwa §§ 21 Abs 1, 25b Abs 2, 3 Arzneimittelgesetz <AMG>, Art 3 EGV 726/2004 - Verordnung <EG> Nr 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.3.2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur, ABl L 136, 1 vom 30.4.2004, zuletzt geändert durch Art Verordnung <EU> 2019/5 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.12.2018, ABl  L 4, 24 vom 7.1.2019). Die Arzneimittelzulassung kann sich aber nicht allein aus ausländischem Recht ergeben (vgl BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 12; BSG vom 11.9.2018 - B 1 KR 36/17 R - juris RdNr 12). Arzneimittel, die als Arzneimittel für seltene Leiden nach der EGV 141/2000 (Verordnung <EG> Nummer 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden, ABl L 18, 1 vom 22.1.2000, zuletzt geändert durch Art 1 VO <EU> 2019/1243 vom 20.6.2019, ABl L 198, 241 vom 25.7.2019) ausgewiesen sind, bedürfen verpflichtend einer europäischen Genehmigung (Art 3 Abs 1 v iVm Nr 4 Anhang EGV 726/2004)

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die den Senat mangels durchgreifender Verfahrensrügen binden (§ 163 SGG), ist Translarna in der EU seit Juli 2014 als Arzneimittel für seltene Leiden für die Behandlung der nmDMD bei gehfähigen Patienten (seit 2018 im Alter ab zwei Jahren) zugelassen, nicht jedoch für die Behandlung nicht gehfähiger Patienten. Ob mit der Empfehlung des CHMP und der darauf beruhenden Änderung der Fachinformation vom Juli 2020 eine Indikationserweiterung dahingehend eingetreten ist, dass die Behandlung von Patienten mit Translarna ermöglicht wird, die unter laufender Therapie mit dem Arzneimittel ihre Gehfähigkeit verloren haben, kann offenbleiben. Denn der Kläger war bereits zu Behandlungsbeginn gehunfähig und seine Erkrankung damit nicht vom Indikationsgebiet von Translarna erfasst.

B. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Versorgung mit Translarna im Off-Label-Use, weder nach § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) im Falle von klinischen Studien regelt, noch nach den allgemeinen Grundsätzen der Rspr zum Off-Label-Use. 

Ein Anspruch nach § 35c SGB V scheidet aus, da für die beim Kläger bestehende Indikation keine Bewertung nach § 35c Abs 1 SGB V erfolgt ist und die Behandlung nicht im Rahmen einer ambulanten klinischen Studie erfolgen soll. 

Ist - wie hier - ein nicht in der Arzneimittel-Richtlinie geregelter Off-Label-Use betroffen, bleiben die allgemeinen, vom Senat entwickelten Grundsätze für einen Off-Label-Use zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) unberührt (stRspr; vgl BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6; BSG vom 8.11.2011 - B 1 KR 19/10 R - BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 16). Die nach diesen Grundsätzen erforderlichen Voraussetzungen sind ebenfalls nicht erfüllt. Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 22/18 R - juris RdNr 18; BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 16; BSG vom 8.11.2011 - B 1 KR 19/10 R - BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 16 mwN; BSG vom 26.9.2006 - B 1 KR 1/06 R - BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 19; vgl zum Off-Label-Use aus der Rspr des für das Vertragsarztrecht zuständigen 6. Senats zB BSG vom 13.8.2014 - B 6 KA 38/13 R - SozR 4-2500 § 106 Nr 47 RdNr 31; zur Verfassungsmäßigkeit vgl BVerfG <Kammer> vom 30.6.2008 - 1 BvR 1665/07 - BVerfGK 14, 46, 48 f = SozR 4-2500 § 31 Nr 17 RdNr 10 f)

Vorliegend fehlt es an einer im Zeitpunkt der Behandlung aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Dafür müssten Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (vgl zB BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 22/18 R - juris RdNr 18; BSG vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 16; BSG vom 8.11.2011 - B 1 KR 19/10 R - BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 17 mwN).  

An solchen Erkenntnissen fehlt es hier. Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen, den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) liegen keine Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) vor.

C. Auch die Voraussetzungen des damit allein als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden § 2 Abs 1a SGB V liegen nicht vor. 

Nach § 2 Abs 1a SGB V können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von den allgemeinen Qualitäts- und Wirksamkeitsanforderungen des § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. 

Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Es fehlt jedenfalls an einer hinreichenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Die negative arzneimittelzulassungsrechtliche Bewertung durch die EMA - hier: das negative Gutachten des CHMP (vgl Art 5, 7, 9 EGV 726/2004, Art 17, 19 EGV 1234/2008 <VO <<EG>> Nummer 1234/2008 der Kommission vom 24.11.2008 über die Prüfung von Änderungen der Zulassungen von Human- und Tierarzneimitteln, ABl L 334, 7 vom 12.12.2008, zuletzt geändert durch Art 1 VO <<EU>> 2021/756 vom 24.3.2021, ABl L 162, 1 vom 10.5.2021>) - entfaltet insoweit eine Sperrwirkung.

1. Allerdings leidet der Kläger an einer regelmäßig tödlichen Erkrankung.

a) Eine Erkrankung ist lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich, wenn sie in überschaubarer Zeit das Leben beenden kann und dies eine notstandsähnliche Situation herbeiführt, in der Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen (vgl BVerfG vom 10.11.2015 - 1 BvR 2056/12 - BVerfGE 140, 229 = SozR 4-2500 § 92 Nr 18, RdNr 18). Nach den konkreten Umständen des Falles muss bereits drohen, dass sich mit großer bzw - gleichbedeutend - hoher Wahrscheinlichkeit der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums verwirklichen wird (stRspr; vgl BVerfG <Kammer> vom 11.4.2017 - 1 BvR 452/17 - SozR 4-2500 § 137c Nr 8 RdNr 25 <IVIG>, vorausgehend BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 1/16 R - BSGE 122, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 28; BSG vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 21 mwN; BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 20/19 R - BSGE 130, 73 = SozR 4-2500 § 12 Nr 18, RdNr 25; BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 22/18 R - juris RdNr 21 ff; BSG vom 10.3.2022 - B 1 KR 6/21 R - SozR 4-2500 § 13 Nr 56 RdNr 33; BSG vom 24.1.2023 - B 1 KR 7/22 R - juris RdNr 29). 

Es genügt nicht, dass die Erkrankung unbehandelt zum Tode führt. Dies trifft auf nahezu jede schwere Erkrankung ohne therapeutische Einwirkung zu (vgl zB BSG vom 26.9.2006 - B 1 KR 3/06 R - SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 34; BSG vom 17.12.2013 - B 1 KR 70/12 R - BSGE 115, 95 = SozR 4-2500 § 2 Nr 4, RdNr 29). Die Erkrankung muss trotz des Behandlungsangebots mit vom Leistungskatalog der GKV regulär umfassten Mitteln lebensbedrohlich sein. Kann einer Lebensgefahr mit diesen Mitteln hinreichend sicher begegnet werden, besteht kein Anspruch aus grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts (vgl BVerfG <Kammer> vom 11.4.2017 - 1 BvR 452/17 - SozR 4-2500 § 137c Nr 8 RdNr 25, 26). Die notstandsähnliche Situation muss sich nach den konkreten Umständen des einzelnen Falles ergeben. Ein nur allgemeines mit einer Erkrankung verbundenes Risiko eines lebensgefährlichen Verlaufs genügt hierfür nicht. Es muss nach den konkreten Umständen des Falles eine durch nahe Lebensgefahr gekennzeichnete individuelle Notlage vorliegen, die durch die Gefahr geprägt ist, dass die betreffende Krankheit in überschaubarer Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben beenden kann, sodass Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen (vgl BVerfG vom 10.11.2015 - 1 BvR 2056/12 - BVerfGE 140, 229 = SozR 4-2500 § 92 Nr 18, RdNr 18; BVerfG <Kammer> vom 30.6.2008 - 1 BvR 1665/07 - BVerfGK 14, 46, 48  = SozR 4-2500 § 31 Nr 17 RdNr 10, Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde, nachgehend zu BSG vom 27.3.2007 - B 1 KR 17/06 R -juris; BVerfG vom 26.3.2014 - 1 BvR 2415/13 - juris RdNr 14; BVerfG <Kammer> vom 11.4.2017 - 1 BvR 452/17 - SozR 4-2500 § 137c Nr 8 RdNr 25; stRspr des erkennenden Senats; vgl BSG vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 21 mwN; BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 20/19 R - BSGE 130, 73 = SozR 4-2500 § 12 Nr 18, RdNr 25; BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 22/18 R - juris RdNr 21 ff; BSG vom 10.3.2022 - B 1 KR 6/21 R - SozR 4-2500 § 13 Nr 56 RdNr 33; BSG vom 24.1.2023 - B 1 KR 7/22 R - juris RdNr 29).

b) Die beim Kläger vorliegende Krankheit ist bislang unheilbar. Sie schreitet nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft rasch voran und führt nach dem Verlust der Gehfähigkeit über weitere körperliche Funktionsverluste schließlich zum Versterben im frühen bis mittleren Erwachsenenalter. Je später eine möglicherweise wirksame Behandlung erfolgt, desto geringer sind die Chancen einer zusätzlichen Lebensverlängerung neben der Standardbehandlung. Nach den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist der Muskelabbau bei der Duchenne-Krankheit nicht umkehrbar. Er kann nur verlangsamt werden. Hieraus ergibt sich für den Kläger schon jetzt eine notstandsähnliche Situation.

2. Das LSG ist zudem davon ausgegangen, dass zur Behandlung der Erkrankung des Klägers keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht. Die Behandlung mit Translarna sei die einzige kausale Behandlungsmethode bei nmDMD. Das LSG stützt sich auf eine Expertenempfehlung (Bernert et alii, Expertenempfehlung: Therapie nichtgehfähiger Patienten mit Muskeldystrophie Duchenne, 19.11.2020, Der Nervenarzt <2021> 92, 359 ff, im Folgenden: Expertenempfehlung). Darin wird eine Standardtherapie der DMD in Form eines interdisziplinären Therapiekonzepts beschrieben (chirurgische Wirbelsäulenstabilisation, Beatmungsverfahren, Glukokortikoidtherapie und kardiologische Betreuung), durch die eine Verbesserung der maximalen Lebenserwartung von früher 20 bis 30 Jahren auf jetzt 40 bis 50 Jahren erreicht worden sei, bei einer medianen Lebenserwartung von etwas über 28 Jahren (Geburtenjahrgänge ab 1990). Das LSG hat keine Feststellungen dazu getroffen, auf welches konkrete Behandlungsziel und welchen über die in der Expertenempfehlung beschriebenen Ergebnisse hinausgehenden Zusatznutzen sich das Fehlen einer Standardtherapie bezieht. Ob der Expertenempfehlung und der darin zitierten neueren Studie von Mercuri und anderen (Mercuri et alii, Journal of Comparative Effectiveness Research <2020> 9<5>, 341, 30.1.2020, Safety und effectiveness of ataluren; aktuell: Mercuri et alii, Safety and effectiveness of ataluren in patients with nonsense mutation DMD in the STRIDE Registry compared with the CINRG Duchenne Natural History Study <2015 - 2022>: 2022 interim analysis, 28.04.2023, doi: https://doi.org/10.1007/s00415-023-11687-1) eine Aussage dahingehend entnommen werden kann, dass zur Behandlung der Erkrankung des Klägers nach Verlust der Gehfähigkeit - etwa bezogen auf eine verzögerte pulmonale Verschlechterung und eine verzögerte Verschlechterung der Herzfunktion - keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende kausale Behandlungsmethode zur Verfügung steht, kann letztlich aber offenbleiben.

3. Jedenfalls fehlt es an einer hinreichenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

a) An dieser Voraussetzung des § 2 Abs 1a SGB V fehlt es, wenn auf eine beantragte Zulassungserweiterung eine ablehnende Entscheidung der arzneimittelrechtlichen Zulassungsbehörde ergangen ist. Gleichgestellt ist dem die Situation, dass eine negative Prüfung durch die EMA - hier: den CHMP - erfolgt ist und der Hersteller seinen Zulassungsantrag daraufhin nicht mehr weiterverfolgt. Der Senat geht insoweit in seiner bisherigen Rspr von einer Sperrwirkung der negativen arzneimittelrechtlichen Bewertung für die Bejahung hinreichender Aussichten iS des § 2 Abs 1a SGB V bzw der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts aus (vgl zum Ganzen ausführlich BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 18 ff mwN; BSG vom 11.9.2018 - B 1 KR 36/17 R - juris RdNr 15 ff mwN, zustimmend: Zuck, SGb 2017, 710, 715; Bayerisches LSG vom 8.10.2020 - L 4 KR 349/18 - juris RdNr 56 ff mwN; LSG für das Saarland vom 23.11.2021 - L 2 KR 16/21 B ER - juris RdNr 35 ff; SG Chemnitz vom 25.10.2017 - S 38 KR 2463/15 - juris RdNr 31; Plagemann, GuP 2019, 96, 99; ders in jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 2 RdNr 59, Stand 15.6.2020; Pitz in jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 31 RdNr 79, Stand 11.1.2023; Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, § 2 RdNr 76g, Stand April 2019; aA SG München vom 19.11.2020 - S 15 KR 293/18 - juris RdNr 69). Hieran hält der Senat fest.

aa) In der Rspr des Senats ist geklärt, dass die verfassungsrechtliche Konkretisierung der Leistungsansprüche von Versicherten der GKV bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen entsprechend der Rspr des BVerfG (BVerfG vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 " SozR 4-2500 § 27 Nr 5) sinngemäß auch für die Versorgung mit Arzneimitteln gilt (BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 18; ferner zB BSG vom 26.9.2006 - B 1 KR 1/06 R - BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 26; BSG vom 8.11.2011 - B 1 KR 19/10 R - BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 22 f; BSG vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 19 ff; BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 22/18 R - juris RdNr 19 ff). Versicherte können danach in notstandsähnlichen Situationen unter engen Voraussetzungen auch die Versorgung mit in Deutschland bzw EU-weit nicht zugelassenen Fertigarzneimitteln beanspruchen. Für einen Versorgungsanspruch müssen nach dieser Rspr die folgenden drei Voraussetzungen erfüllt sein (vgl dazu BSG vom 4.4.2006, aaO, RdNr 27; stRspr)

 (1) Es darf kein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht vorliegen. 

 (2) Für die Chancen-Risiken-Abwägung im Einzelnen gilt grundsätzlich Folgendes: Erforderlich ist, dass unter Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bei der vor der Behandlung erforderlichen sowohl abstrakten als auch speziell auf den Versicherten bezogenen konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken der voraussichtliche Nutzen überwiegt (vgl BSG vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 29)

 (3) Die Behandlung muss auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt und ausreichend dokumentiert werden (vgl BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 20/19 R - BSGE 130, 73 = SozR 4-2500 § 12 Nr 18, RdNr 20; BSG vom 7.11.2006 - B 1 KR 24/06 R - BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 27)

Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab für die Beurteilung, ob die behaupteten Behandlungserfolge mit hinreichender Sicherheit dem Einsatz gerade der streitigen Behandlung zugerechnet werden können und das einzugehende Risiko vertretbar ist, unterliegt Abstufungen je nach der Schwere und dem Stadium der Erkrankung. Dabei sind Differenzierungen im Sinne der Geltung abgestufter Evidenzgrade nach dem Grundsatz vorzunehmen "je schwerwiegender die Erkrankung und 'hoffnungsloser' die Situation, desto geringere Anforderungen sind an die 'ernsthaften Hinweise' auf einen nicht ganz entfernt liegenden Behandlungserfolg zu stellen" (vgl BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 39, 40). Für diese Beurteilung können auch Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische Überlegungen, deskriptive Darstellungen, Einzelfallberichte, nicht mit Studien belegte Meinungen anerkannter Experten, Konsensuskonferenzen und Berichte von Expertenkomitees berücksichtigt werden (Kap 4 Abschn 2 § 7 Abs 4 Verfahrensordnung des GBA; vgl auch BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 40). Die vorhandenen Erkenntnisse müssen abstrakt die Annahme rechtfertigen, dass mit der geplanten Arzneimitteltherapie der angestrebte Erfolg erreicht werden kann, und zwar in dem Sinne, dass die Anwendung des Arzneimittels - unter Berücksichtigung von Spontanheilung und wirkstoffunabhängigen Effekten - eher zu einem therapeutischen Erfolg führt als seine Nichtanwendung (vgl BSG, aaO, RdNr 42). Eine positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf ist zu bejahen, wenn zumindest das Fortschreiten der Krankheit aufgehalten oder Komplikationen verhindert werden. Fehlen theoretisch-wissenschaftliche Erklärungsmuster, kann im Einzelfall bei vertretbaren Risiken auch die bloße ärztliche Erfahrung für die Annahme eines Behandlungserfolgs entscheidend sein, wenn sich diese Erkenntnisse durch andere Ärzte in ähnlicher Weise wiederholen lassen (vgl BSG, aaO, RdNr 43).

bb) Hat ein Arzneimittel bereits ein Zulassungsverfahren für die betreffende Indikation durchlaufen, genügen die nach dem allgemeinen Prüfungsmaßstab grundsätzlich ausreichenden Erkenntnisgrundlagen (zB auch Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische Überlegungen, deskriptive Darstellungen, Einzelfallberichte, nicht mit Studien belegte Meinungen anerkannter Experten, Konsensuskonferenzen und Berichte von Expertenkomitees) allein nicht mehr, um eine hinreichenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf zu begründen. § 2 Abs 1a SGB V betrifft in Bezug auf Arzneimittel vor allem Fälle, in denen in einem frühen Stadium der Entwicklung zugelassener Fertigarzneimittel für neue Indikationsgebiete noch keine ausreichenden Erkenntnisse für die abschließende Bewertung des Nutzens und die erforderliche Chancen-Risiko-Abwägung erlangt werden konnten. Ist aber bereits eine ablehnende Entscheidung der europäischen oder nationalen Arzneimittelzulassungsbehörde nach inhaltlicher Prüfung der vom Hersteller vorgelegten Unterlagen oder eine dieser gleichzustellende negative Bewertung durch die Zulassungsbehörde erfolgt, können diese Entscheidungen oder Bewertungen nicht mehr ausgeblendet werden und der Anspruch auf das Arzneimittel trotzdem mit abweichenden Einzelmeinungen begründet werden. Es fehlt daher in diesen Fällen an einer hinreichenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. 

Der Senat ist in seiner Rspr daher bislang in folgenden Konstellationen von einer Sperrwirkung des Arzneimittelrechts ausgegangen: 

 (1) Er hat angenommen, dass eine positive abstrakte Chancen-Risiko-Abwägung nicht erfolgen kann, wenn die zuständige Behörde die Zulassung eines Arzneimittels nach § 25 Abs 2 Satz 1 Nr 3 bis 6 AMG - dh nach inhaltlicher Prüfung - versagt oder die Zulassung widerrufen, zurückgenommen oder dessen Ruhen nach § 30 AMG angeordnet hat (vgl BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 41; BSG vom 26.9.2006 - B 1 KR 1/06 R - BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 22; vgl ferner BSG vom 8.3.1995 - 1 RK 8/94 - SozR 3-2500 § 31 Nr 3 S 8 f = juris RdNr 18; BSG vom 8.6.1993 - 1 RK 21/91 - BSGE 72, 252, 257 = SozR 3-2200 § 182 Nr 17 S 84 = juris RdNr 24, 25; BSG vom 17.3.2005 - B 3 KR 2/05 R - BSGE 94, 213 RdNr 16 = SozR 4-5570 § 30 Nr 1 RdNr 13 = juris RdNr 22)

 (2) Gleiches gilt, wenn für ein Arzneimittel im Rahmen der zentralen oder dezentralen Zulassung auf EU-Ebene die Zulassung verweigert worden ist (zB Art 10 Abs 2 Satz 1, 12 EGV 726/2004). Der förmlichen Ablehnung eines Zulassungsantrags steht es gleich, wenn der Hersteller - wie hier - seinen Antrag wegen des negativen Gutachtens der EMA (des CHMP) nicht weiterverfolgt (vgl BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 21; BSG vom 11.9.2018 - B 1 KR 36/17 R - juris RdNr 15).

cc) Hieran hält der Senat fest, obwohl die Prüfungsmaßstäbe des Arzneimittelrechts und des § 2 Abs 1a SGB V im Ansatz nicht völlig deckungsgleich sind. 

Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen die Zulassung des Arzneimittels nur deshalb abgelehnt worden ist, weil der Hersteller des Arzneimittels keine hinreichend aussagekräftigen Studien vorgelegt hat (vgl zur inhaltlichen Aussagekraft der Zulassungsversagung wegen nicht behebbarer Unvollständigkeit der Antragsunterlagen BSG vom 23.7.1998 - B 1 KR 19/96 R - BSGE 82, 233, 235 f = SozR 3-2500 § 31 Nr 5 S 17 = juris RdNr 14). Denn der Leistungsanspruch nach § 2 Abs 1a SGB V setzt keinen Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse voraus. Die nach § 2 Abs 1a SGB V durchzuführende abstrakte Chancen-Risiko-Abwägung erfolgt aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse, die nur eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf belegen (siehe RdNr 29 und 31). Der Senat verkennt dabei nicht, dass die Annahme einer grundsätzlichen Sperrwirkung des arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens hierzu in einem deutlichen Spannungsfeld steht.

dd) Trotz der nicht vollständig deckungsgleichen Prüfungsmaßstäbe gibt es jedoch gewichtige Gründe, an der Sperrwirkung negativer arzneimittelrechtlicher Entscheidungen für Leistungsansprüche Versicherter gegen ihre KK auch im Anwendungsbereich des § 2 Abs 1a SGB V festzuhalten. 

Hierfür sprechen die Entstehungsgeschichte des § 2 Abs 1a SGB V (dazu <1>), das auch im Rahmen von § 2 Abs 1a SGB V relevante Schutzkonzept des Arzneimittelrechts (dazu <2>), der Verzicht des SGB V auf eigenständige Qualitätssicherungsmaßnahmen im Arzneimittelbereich (dazu <3>), die Flexibilität des Arzneimittelrechts, auf bestimmte Ausnahmen oder Notstandssituationen zu reagieren und die auch im nationalen Recht mögliche Rücksichtnahme auf mangelnde Datenlagen bei Arzneimitteln (dazu <4>). 

 (1) Die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 2 Abs 1a SGB V nimmt auf die Entscheidung des BVerfG vom 6.12.2005 (1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5) und die dort entwickelten Grundsätze Bezug, die der erkennende Senat für den Bereich der Arzneimittelversorgung in seiner Tomudex-Entscheidung vom 4.4.2006 umgesetzt hat (B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 11 ff). Nach der Begründung des Gesetzentwurfs zu § 2 Abs 1a SGB V sollten die zuvor von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze unberührt bleiben. Diese umfassen auch die Sperrwirkung ablehnender arzneimittelrechtlicher Entscheidungen. Darüber hinaus sollten keine neuen Leistungen eingeführt, sondern die bereits durch die Rspr entwickelten Anspruchsvoraussetzungen aufgrund grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts ins Gesetz übernommen werden (BT-Drucks 17/6906 S 52 f)

 (2) Das Arzneimittelrecht trägt dem sich aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG ergebenden staatlichen Schutzauftrag Rechnung, indem es die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der im Verkehr befindlichen und in den Verkehr zu bringenden Arzneimittel gewährleistet. So dienen die unter dem Eindruck der Tragödie um das Arzneimittel "Contergan" eingeführten (vgl BT-Drucks 7/5091 S 5; Fleischfresser/Fuhrmann in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, Arzneimittelrecht, 3. Aufl 2020, § 1 RdNr 5 ff) arzneimittelrechtlichen Zulassungsvorschriften der Gefahrenabwehr und der Risikovorsorge (Kügel in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl 2022, § 25 RdNr 2; Fleischfresser/ Fuhrmann in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, Arzneimittelrecht, 3. Aufl 2020, § 7 RdNr 11 ff), insbesondere dem Patienten- und Verbraucherschutz (Winnands/Kügel in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl 2022, § 21 RdNr 2). Das dauerhafte Unterlaufen der arzneimittelrechtlichen Vorschriften kann daher - gerade auch bei schwerwiegenden Erkrankungen - zu Gefahren für Leben und körperliche Unversehrtheit führen (vgl BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 19; BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 25)

Dabei bieten die Institutionalisierung des Zulassungsverfahrens und die hohe fachliche Expertise der Arzneimittelbehörden eine besonders hohe Gewähr für Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit bei der Prüfung der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln. 

Diese Schutzpflichten sollen die Versicherten auch davor bewahren, auf Kosten der GKV mit zweifelhaften Therapien behandelt zu werden. Sachliche Gründe dafür, dieses Schutzkonzept im Anwendungsbereich des Art 2 Abs 1a SGB V - also bei besonders schwerwiegenden Erkrankungen - weithin außer Kraft zu setzen, sind nicht erkennbar (vgl BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 19; BSG vom 11.9.2018 - B 1 KR 36/17 R - juris RdNr 16; BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 25). Hat der Zulassungsantrag auf Indikationserweiterung aufgrund einer inhaltlichen Prüfung (hier: durch den Ausschuss für Humanarzneimittel - CHMP) keinen Erfolg, ist damit auch eine nicht entfernte Aussicht auf eine positive Wirkung des Arzneimittels zu verneinen. Denn nähme man von der Sperrwirkung der fehlenden Arzneimittelzulassung bei § 2 Abs 1a SGB V zugunsten einer rein einzelfallbezogenen Prüfung Abstand, würde das Zulassungserfordernis für Arzneimittel zur Behandlung bestimmter, besonders schwerer Erkrankungen, faktisch ausgehebelt. 

 (3) Die GKV sieht bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ein eigenes strukturiertes Qualitätssicherungssystem vor (vgl ua die §§ 135, 137c, 137h, 139 Abs 3 Satz 3 SGB V). Bei der Einbeziehung von Arzneimitteln in den Leistungskatalog des SGB V verzichtet die GKV hierauf jedoch gerade im Hinblick auf die Zulassungsverfahren nach dem nationalen und europäischen Arzneimittelrecht (vgl BSG vom 19.3.2002 - B 1 KR 37/00 R - BSGE 89, 184, 185 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 29 = juris RdNr 11; BSG vom 11.5.2011 - B 6 KA 13/10 R - BSGE 108, 175 = SozR 4-2500 § 106 Nr 32, RdNr 33). Mit der arzneimittelrechtlichen Zulassung verfügen die KKn über ein eindeutiges und zugängliches Kriterium bei der Entscheidung über die Verordnungsfähigkeit von pharmazeutischen Produkten. Dieses Kriterium ist auch zuverlässig, denn die Zulassungsentscheidung ergeht auf der Grundlage aufwendiger Zulassungsunterlagen des Antragstellers mit sachangemessener behördlicher Kompetenz (so BVerfG <Kammer> vom 5.3.1997 - 1 BvR 1071/95 - juris RdNr 10)

 (4) Der arzneimittelrechtliche Evidenzmaßstab ist sowohl europarechtlich als auch nach dem AMG flexibel. Er ermöglicht erleichterte Zulassungsmöglichkeiten und Ausnahmegenehmigungen für das Inverkehrbringen für bestimmte Arzneimittel, etwa wenn es - wie in dem vorliegenden Fall - um die Schließung von Versorgungslücken für seltene oder besonders schwerwiegende Erkrankungen geht.

(a) Dies trifft zunächst und insbesondere zu auf Art 4 Abs 1 EGV 507/2006 (Verordnung <Europäische Gemeinschaft> Nummer 507/2006 der Kommission vom 29.3.2006 über die bedingte Zulassung von Humanarznei­mitteln, die unter den Geltungsbereich der Verordnung <Europäische Gemeinschaf> Nummer  726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates fallen (Verordnung <EG> Nummer 507/2006 der Kommission vom 29.3.2006 über die bedingte Zulassung von Humanarzneimitteln, die unter den Geltungsbereich der Verordnung <EG> Nr 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates fallen, ABl L Nr 92, 6 vom 30.3.2006). Danach kann im Zulassungsverfahren auch eine nur bedingte Zulassung erteilt werden, wenn

- das in Art 1 Nr 28 Buchst a RL 2001/83/EG definierte Nutzen-Risiko-Verhältnis des Arzneimittels positiv ist (Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.11.2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, ABl L 311, 67 vom 28.11.2001, berichtigt 2003 L 302, 40 vom 20.11.2003 und 2014 L 239, 81 vom 12.8.2014, zuletzt geändert durch Art 2 RL <EU> 2022/642 vom 12.4.2022, ABl L 118, 4 vom 20.4.2022),
- dadurch eine Versorgungslücke geschlossen wird, 
- der Antragsteller voraussichtlich in der Lage ist, die klinischen Daten nachzuliefern,
- und der erwartete Nutzen die Gefahr aufgrund fehlender Daten überwiegt.

Diese erleichterte bedingte Zulassung betriff insbesondere seltene Leiden iS von Art 3 EGV 141/2000 wie hier die nmDMD (vgl Wesser, MedR 2023, 29, 34)

Die zuständige Arzneimittelbehörde hat für das Arzneimittel Translarna für die hier in Rede stehende Indikation allerdings auch diese erleichterte Zulassung wegen eines fehlenden Nutzennachweises nicht erteilt. 

 (b) Sofern es um die Schließung medizinischer Versorgungslücken für Arzneimittel zur Behandlung, Vorbeugung oder Diagnose von zu schwerer Invalidität führenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten geht, ermöglicht Art 14a EGV 726/2004 zudem eine außerordentliche Zulassung auch schon vor dem Vorliegen umfassender klinischer Daten. 

 (c) Wenn es aus objektiven und nachprüfbaren Gründen überhaupt nicht möglich ist, vollständige Daten über die Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels bei bestimmungsgemäßem Gebrauch zur Verfügung stellen, kommt eine Ausnahmegenehmigung für das Inverkehrbringen nach Art 14 Abs 8 Satz 1 EGV 726/2004 in Betracht (vgl zur Abgrenzung von der außerordentlichen Zulassung Erwägungsgrund 6 zur EGV 507/2006)

 (d) Für Arzneimittel, die für die öffentliche Gesundheit und insbesondere unter dem Gesichtspunkt der therapeutischen Innovation von hohem Interesse sind, besteht ein beschleunigtes Beurteilungsverfahren nach Art 14 Abs 9 EGV 726/2004

 (e) Für Patienten, die an einer besonders schweren Erkrankung leiden, und die mit einem zugelassenen Arzneimittel nicht zufriedenstellend behandelt werden können, besteht schließlich eine Ausnahme von der Zulassungspflicht im Rahmen von Härtefallprogrammen (sog compassionate use; siehe § 21 Abs 2 Nr 3 AMG iVm Art 83 EGV 726/2004 sowie die Arzneimittel-Härtefall-Verordnung).  

 (f) Für den Fall einer Zulassungsänderung gibt es im europäischen Recht darüber hinaus ein abgestuftes Änderungssystem (vgl zum nationalen Recht § 29 AMG sowie die EGV 1234/2008). Art 2 Nr 1 EGV 1234/2008 bestimmt die relevanten Änderungen, die ihrerseits - je nach Änderungsauswirkung - nach Art 2 Nr 2 bis 5 EGV 1234/2008 in vier Kategorien nach Art 3 EGV 1234/2008 eingeteilt werden: geringfügige Änderungen des Typs IA, geringfügige Änderungen des Typs IB, größere Änderungen des Typs II und Zulassungserweiterung oder Erweiterung. Die Prüfung von Änderungen zentralisierter Zulassungen erfolgt abhängig vom Änderungstyp (vgl Art 14 bis 17, 19 EGV 1234/2008). Die Änderungen sind der Zulassungsbehörde anzuzeigen, sodass diese ggf im Hinblick auf die arzneimittelrechtliche Zulässigkeit - also Fortbestehen der in der Zulassung manifestierten Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit - überprüft werden können (Kösling/Wolf in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, Arzneimittelrecht, 3. Aufl 2020, § 11 RdNr 1)

 (g) Zudem ist die Beurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses relativ. Es verlangt eine Abwägung zwischen dem therapeutischen Nutzen des Arzneimittels und seiner - gewissen oder möglichen - Schädlichkeit. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist ungünstig, wenn die Anwendung des Arzneimittels mit einem Risiko verbunden ist, das die positiven therapeutischen Wirkungen überwiegt (vgl BVerwG vom 1.12.2016 - 3 C 14/15 - BVerwGE 156, 345 = Buchholz 418.32 AMG Nr 73, RdNr 38). Es genügt, dass die Wirksamkeit im Verhältnis zur Bedeutung des Anwendungsgebietes steht (vgl mit Beispielen zB Fuhrmann in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, Arzneimittelrecht, 3. Aufl 2020, § 10 RdNr 170 ff). Der Grad des vertretbaren Risikos hängt von dem konkreten Nutzen des fraglichen Arzneimittels ab (EuG vom 11.12.2014 - T-189/13 - BeckRS 2014, 82604 RdNr 42; BVerwG vom 1.12.2016 - 3 C 14/15 - BVerwGE 156, 345 = Buchholz 418.32 AMG Nr 73, RdNr 38). Zudem ist kein Vollbeweis der Wirksamkeit eines Arzneimittels im Sinne eines jederzeit reproduzierbaren Ergebnisses eines nach einheitlichen Methoden ausgerichteten naturwissenschaftlichen Experiments erforderlich (vgl BT-Drucks 7/5091 S 15; BVerwG 14.10.1993 - 3 C 21/91 - BVerwGE 94, 215, 222 = juris RdNr 40).

b) Die vom Senat angenommene Sperrwirkung einer ablehnenden Entscheidung der Arzneimittelbehörde über einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung beschränkt sich im Rahmen eines engen Anwendungsbereichs auf Fälle, in denen eine Zulassungserweiterung beantragt und inhaltlich geprüft, jedoch abgelehnt wurde. Fehlt es hingegen an einer inhaltlichen Bewertung des Nutzens bzw des Nutzen-Risiko-Verhältnisses durch die Arzneimittelbehörde, bleibt es bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 2 Abs 1a SGB V beim allgemeinen Maßstab (siehe dazu oben RdNr 29 und 31). Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen ein Antrag auf Zulassungserweiterung (noch) nicht gestellt wurde oder über einen solchen Antrag noch nicht abschließend entschieden wurde.

c) Die Sperrwirkung kann überwunden werden, wenn im Nachgang zu der negativen arzneimittelrechtlichen Bewertung neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation - zumindest im Rahmen einer vereinfachten, ggf bedingten Zulassung - zugelassen werden kann. Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen aus Studienergebnissen folgen, die zeitlich nach der inhaltlichen Bewertung durch die Arzneimittelbehörde veröffentlicht werden. Nicht ausreichend ist hingegen eine bloß abweichende Bewertung von bereits im arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahren vorhandenen Erkenntnissen. 

Hierdurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das Arzneimittelrecht keine Vorkehrungen enthält, die eine den Kriterien des § 1 AMG entsprechende Patientenversorgung auch dann ermöglichen, wenn das zugelassene Arzneimittel sich in weiteren Anwendungsgebieten als therapeutisch nützlich erwiesen hat, der Hersteller aber - insbesondere aus wirtschaftlichen Gründen - von der Stellung eines Zulassungserweiterungsantrages absieht (vgl BSG vom 19.3.2002 - B 1 KR 37/00 R - BSGE 89, 184, 188 f = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 33 = juris RdNr 19).

d) Unter Berücksichtigung der vorgenannten Maßstäbe scheitert der Anspruch des Klägers gemäß § 2 Abs 1a SGB V vorliegend an der Sperrwirkung der negativen inhaltlichen Bewertung durch die zuständige Arzneimittelzulassungsbehörde. Die vom pharmazeutischen Unternehmer beantragte Erweiterung der Indikation von Translarna auf gehunfähige Patienten bei nmDMD wurde von der europäischen Arzneimittelzulassungsbehörde infolge der ablehnenden Empfehlungen der EMA aufgrund des Gutachtens des CHMP nicht erteilt. Der pharmazeutische Unternehmer hat den Antrag daraufhin nicht weiterverfolgt. 

Nach den Feststellungen des LSG und auch sonst liegen keine Anhaltspunkte für neue wissenschaftliche Erkenntnisse vor, die zeitlich nach den EMA-Entscheidungen veröffentlicht wurden und die geeignet wären, nach den vorgenannten gemeinschaftsrechtlichen Zulassungsvoraussetzungen eine Zulassungserweiterung zu ermöglichen.

e) Dahingestellt bleiben kann nach alledem, ob nach dem bis zum Abschluss des Prüfungsverfahrens geltenden allgemeinen Maßstab (siehe oben RdNr 29 und 31) die Behandlung des Klägers mit Translarna eine hinreichende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf seinen Krankheitsverlauf geboten hätte. Dies hat das LSG zwar angenommen. Ob diese Annahme von der vom LSG festgestellten Tatsachengrundlage getragen ist, erscheint aus Sicht des erkennenden Senats aber nicht frei von Zweifeln. Denn die Expertenempfehlung, auf die sich das LSG maßgeblich stützt, trifft nur Aussagen zur Fortsetzung der Therapie mit Translarna nach Verlust der Gehfähigkeit. Dazu, dass die Mercuri-Studie, auf die sich die Expertenempfehlung stützt, über die bisherigen tatsächlichen Erkenntnisse hinausgeht, hat das LSG keine Feststellungen getroffen. Dagegen könnte sprechen, dass der CHMP eine solche Extrapolation auf bei der erstmaligen Gabe von Translarna bereits Gehunfähige ausdrücklich abgelehnt hat. Hinzukommt, dass die mit Translarna behandelte Vergleichsgruppe in der Mercuri-Studie überwiegend zu Beginn des Beobachtungszeitraums gehfähig war und es auch blieb.

D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Schlegel                          Bockholdt                         Scholz

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