Bundessozialgericht

Bundessozialgericht Urteil vom 05.11.2024, B 12 KR 11/23 R

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 2. Februar 2023 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Festsetzung geringerer Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für die Zeit ab 1.1.2020 unter Gewährung des seitdem für Renten der betrieblichen Alters­versorgung eingeführten Freibetrags.

Die Klägerin ist bei der Beklagten als freiwilliges Mitglied gesetzlich krankenversichert. Neben einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) bezieht sie monatlich eine Aus­landsrente aus der S iHv 52,16 Euro und Versorgungsbezüge der Zusatzversorgungs­kasse D iHv 681,60 Euro. Außerdem erhielt sie 2019 eine Kapitalleistung der Pensionskasse AG iHv 40 117,21 Euro. Mit Schreiben vom 8.2.2021 machte die Klägerin geltend, dass seit Januar 2020 ein Freibetrag auf Betriebsrenten in Abzug zu bringen sei. In ei­nem Antwortschreiben vom 16.2.2021 erläuterte die Beklagte die Rechtslage; der zum 1.1.2020 eingeführte Freibetrag auf Renten der betrieblichen Altersversorgung sei in der freiwilligen Kran­kenversicherung nicht für anwendbar erklärt worden.

Mit Bescheid vom 11.3.2021 setzte die Beklagte die Beiträge zur GKV für das Kalenderjahr 2019 endgültig und für die Zeit ab 1.3.2021 vorläufig fest. Am 18.3.2021 erhob die Klägerin Wider­spruch gegen den "Bescheid" vom "16.02.2021". Nach Beitragsneufestsetzungen für die Zeit ab 1.7.2021 (Bescheide vom 28.6.2021 und vom 23.8.2021) wurde der Widerspruch "gegen den Bescheid vom 11.03.2021", der sich gegen die Beitragsbemessung "ab 01.01.2020 richte(t)", zu­rückgewiesen.

Die Klage ist erfolglos geblieben (Gerichtsbescheid vom 22.5.2022). Das LSG hat weitere Bei­tragsneufestsetzungen (Bescheide vom 13.1.2022 und 25.3.2022) in das Verfahren ausdrücklich einbezogen und die Klage gegen die während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheide vom 19.9.2022 und 7.11.2022 abgewiesen. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG hat es zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Freibetragsregelung auf freiwillig Krankenversicherte keine Anwendung finde. Sie dürfe an die grundlegenden Unterschiede von Pflicht‑ und freiwillig Versicherten in der GKV anknüpfen. Die Ungleich­behandlung beruhe auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers und begegne keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken (Urteil vom 2.2.2023).

Auf Nachfrage des Senats hat die Beklagte Bescheide betreffend die Beitragsfestsetzungen für die Zeit vom 1.1.2020 bis zum 28.2.2021 vorgelegt (Bescheide vom 5.11.2019, 8.7.2020, 20.8.2020 und 18.1.2021).

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland‑Pfalz vom 2. Februar 2023 und den Ge­richtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 22. Mai 2022 sowie insoweit die Bescheide der Beklagten vom 5. November 2019, 8. Juli 2020, 20. August 2020, 18. Januar 2021, 11. März 2021, 28. Juni 2021 und 23. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbe­scheids vom 1. September 2021 in der Fassung der Bescheide vom 13. Januar 2022, 25. März 2022, 19. September 2022 und 7. November 2022 aufzuheben, als für die Zeit vom 1. Januar 2020 bis zum 2. Februar 2023 Beiträge zur gesetzlichen Krankenversiche­rung ohne Abzug des Freibetrags von einem Zwanzigstel der monatlichen Bezugsgröße festgesetzt worden sind.

Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält das angegriffene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin (dazu 1.) ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung be­gründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Teilanfechtungsklage ist zulässig erhoben (dazu 2.). Allerdings vermag der Senat wegen unzureichender Tatsachenfeststellungen des LSG nicht ab­schließend die Rechtmäßigkeit der Beitragsfestsetzung zur GKV für die Zeit vom 1.1.2020 bis zum 2.2.2023 zu beurteilen (dazu 3.).

1. Die Revision ist auch hinsichtlich der mit dem Revisionsantrag erstmals benannten Bescheide vom 5.11.2019, 8.7.2020, 20.8.2020 und 18.1.2021 zulässig. Der vom LSG sinngemäß wieder­gegebene Antrag der Klägerin im Berufungsverfahren umfasst diese zwar nicht ausdrücklich, be­zieht sich aber auf die Festsetzung der Beiträge für die Zeit ab 1.1.2020 und damit grundsätzlich auf alle hierzu ergangenen Verwaltungsakte. Da das LSG zur vorläufigen und endgültigen Bei­tragsfestsetzung, deren Umfang und Berechnungsgrundlagen keinerlei Feststellungen getroffen hat, bleibt unklar, ob es die zunächst ergangenen Bescheide absichtlich unberücksichtigt gelas­sen hat. Insoweit ‑ aber auch für die Folgejahre ‑ wird es jedenfalls im wiedereröffneten Beru­fungsverfahren zu prüfen haben, ob die ursprünglich angefochtenen Verwaltungsakte noch wirk­sam sind oder durch eine endgültige, in sich hinreichend bestimmte Beitragsfestsetzung ihre Er­ledigung gefunden haben (§ 31 Abs 1 Satz 1, § 39 Abs 2 SGB X, § 96 Abs 1 SGG, § 153 Abs 1 SGG).

2. Das LSG ist im Ergebnis zutreffend von der nicht näher dargelegten Zulässigkeit der hier er­hobenen Teilanfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG; vgl dazu bereits BSG Urteil vom 22.9.1988 ‑ 12 RK 12/86 ‑ BSGE 64, 100 = SozR 2200 § 180 Nr 44, juris RdNr 19; seither stRspr, zB BSG Urteil vom 28.9.2011 ‑ B 12 KR 9/10 R ‑ juris RdNr 11 mwN) auch bezüglich der Bei­tragsfestsetzung für das Jahr 2020 ausgegangen. Sachurteilsvoraussetzung für eine (Teil‑)An­fechtungsklage ist eine ablehnende Verwaltungsentscheidung (vgl BSG Urteil vom 29.1.1975 ‑ 5 RKnU 12/74 ‑ BSGE 39, 86 = SozR 2200 § 628 Nr 1, juris RdNr 11). Der Bescheid vom 11.3.2021, auf den sich das LSG bezieht, genügt als Ausgangsbescheid nicht. Mit diesem Verwaltungsakt sind Krankenversicherungsbeiträge endgültig für das Jahr 2019 und vorläufig für den Zeitraum "01.03.2021 ‑ laufend", nicht aber für das von Anfang an streitige Jahr 2020 fest­gesetzt worden. Zulässiger Anfechtungsgegenstand ist ein vom LSG gegebenenfalls nach § 96 Abs 1 SGG einbezogener (endgültiger) Bescheid immer nur insoweit, als er danach den bereits "angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt" (vgl BSG Urteil vom 25.4.2018 ‑ B 8 SO 23/16 R ‑ SozR 4‑1500 § 91 Nr 1 RdNr 21). Als die Beitragsreduzierung unter Berücksichtigung des geltend gemachten Freibetrags ablehnende (vorläufige) Verwaltungsentscheidungen für das Jahr 2020 bis zum 28.2.2021 sind die Beitragsfestsetzungen in den Bescheiden vom 5.11.2019, 8.7.2020, 20.8.2020 und 18.1.2021 anzusehen.

Diese Verwaltungsakte waren auch Gegenstand des im Falle einer (Teil‑)Anfechtungsklage er­forderlichen Widerspruchsverfahrens (§ 78 Abs 1 Satz 1 SGG). Das Begehren der Klägerin war bereits in ihrem Schreiben vom 8.2.2021 erkennbar auf die Gewährung eines Freibetrags nach Maßgabe des § 226 Abs 2 Satz 2 SGB V ab dem 1.1.2020 gerichtet. Darauf reagierte die Be­klagte zunächst mit dem erläuternden Schreiben vom 16.2.2021. Den hiergegen erhobenen und bei ihr am 18.3.2021 eingegangenen Widerspruch durfte sie als Widerspruch gegen den Verwal­tungsakt vom 11.3.2021 und sämtliche zuvor ergangenen Verwaltungsakte betreffend die Bei­tragsfestsetzung für die Zeit ab 1.1.2020 deuten. Die Klägerin wandte sich zwar ausdrücklich gegen das "Schreiben … vom 16.02.2021", das sie als "Bescheid" bewertete. Aus ihren weiteren Ausführungen wird jedoch hinreichend deutlich, dass sie eine Überprüfung der Beiträge in Bezug auf den nicht berücksichtigten "Freibetrag von aktuell € 159,25 seit 01.01.2020 auf Betriebsren­ten" geltend macht. Die Beklagte hat dieses Begehren umfassend im Widerspruchsbescheid vom 1.9.2021 behandelt. Im Eingangssatz nimmt sie Bezug auf den Widerspruch vom 18.3.2021, der sich gegen den Bescheid vom 11.3.2021 "wegen der Beitragsbemessung freiwilliger Mitglieder ohne Abzug des Betriebsrenten-Freibetrags ab 01.01.2020 richtet". Dementsprechend bezeich­net sie in der Begründung ihres Widerspruchsbescheids als streitgegenständlich "die vorläufige Beitragseinstufung seit 01.03.2021" und die "weiterhin vorläufig gültige Beitragsbemessung vom 01.01.2020 bis 28.02.2021". Auch wenn sie die insoweit ergangenen Bescheide nicht ausdrück­lich mit Datum benennt, ergibt eine am Maßstab des objektiven Empfängerhorizonts orientierte Auslegung (vgl hierzu zB BSG Urteil vom 30.6.1999 ‑ B 2 U 24/98 R ‑ juris RdNr 22), dass die Beklagte über die Verwaltungsakte für die Zeit vom 1.1.2020 bis zum 28.2.2021 mitentschieden hat.

Dem steht nicht entgegen, dass die Widerspruchsfrist gegen die vorläufigen Beitragsfestsetzun­gen für die Zeit ab 1.1.2020 (teilweise) bereits abgelaufen war (vgl § 84 Abs 1 Satz 1 SGG). Denn die Beklagte kann auch einen verspäteten Widerspruch in Ausübung ihrer Sachherrschaft über das Widerspruchsverfahren materiell bescheiden (grundlegend dazu BSG Urteil vom 12.10.1979 ‑ 12 RK 19/78 ‑ BSGE 49, 85 = SozR 2200 § 1422 Nr 1, juris RdNr 17‑23; seither stRspr, zB BSG Urteil vom 17.6.2008 ‑ B 8 AY 11/07 R ‑ juris RdNr 12).

3. In der Sache vermag der Senat die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Beitragsfestsetzung anhand der vom LSG festgestellten Tatsachen (§ 163 SGG) nicht abschließend zu beurteilen. Das LSG hat sich hinsichtlich der beitragspflichtigen Einnahmen ohne zeitliche Zuordnung auf die Angabe beschränkt, dass die Klägerin neben ihren (unbezifferten) Rentenbezügen eine mo­natliche Auslandsrente von 52,16 Euro sowie monatliche Versorgungsbezüge von 681,60 Euro beziehe und ihr 2019 eine Kapitalleistung einer Pensionskasse über 40 117,21 Euro zugeflossen sei. Inwieweit diese Einnahmen bei den jeweiligen Beitragsfestsetzungen berücksichtigt worden sind, teilt das LSG nicht mit. Informationen dazu, welche Einnahmen in welcher Höhe der Bei­tragsbemessung nach welchem Beitragssatz zugrunde gelegt worden sind, enthalten auch die jeweils maßgeblichen Bescheide nicht. Sie weisen allenfalls den Gesamtbetrag der herangezo­genen Einkünfte aus, ohne mitzuteilen, ob und in welcher Höhe welche Einnahme zu Beiträgen herangezogen worden ist. Diese Feststellung wird das LSG im wieder eröffneten Berufungsver­fahren nachzuholen haben. Andernfalls kann die Höhe der Beitragsbemessung nicht nachvollzo­gen werden. Auf die Höhe kommt es aber entscheidungserheblich an, weil allein die Frage der Abzugsfähigkeit des Freibetrags als bloßes Element der Beitragsbemessung nicht gesondert feststellungsfähig ist (vgl BSG zB Urteil vom 15.7.2009 ‑ B 12 KR 14/08 R ‑ SozR 4‑2500 § 7 Nr 1 RdNr 17 mwN).

Soweit der Klägerin auf die von ihr bezogenen Renten der betrieblichen Altersversorgung iS des § 229 Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB V (in der Fassung <idF> des Betriebsrentenstärkungsgesetzes vom 17.8.2017, BGBl I 3214) der Freibetrag nach Maßgabe des § 226 Abs 2 Satz 2 SGB V (idF des GKV-Betriebsrentenfreibetragsgesetzes vom 21.12.2019, BGBl I 2913) nicht gewährt worden ist, ist das LSG in der Sache zutreffend davon ausgegangen, dass diese Vorschrift auf freiwillig Kran­kenversicherte wie die Klägerin gemäß § 240 Abs 1 Satz 1 SGB V (idF des GKV-Wettbewerbs­stärkungsgesetzes vom 26.3.2007, BGBl I 378) iVm § 3 Abs 4 Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler keine Anwendung findet. Der Begünstigungsausschluss verletzt nicht den allgemei­nen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG. Die Ungleichbehandlung freiwillig versicherter Rentner gegenüber in der Krankenversicherung der Rentner Pflichtversicherten ist durch den unterschied­lichen Umfang von Vorversicherungszeiten in der GKV und damit unter dem Gesichtspunkt der Systemtreue gerechtfertigt (vgl BSG Urteile vom 5.11.2024 ‑ B 12 KR 9/23 R ‑ zur Veröffentli­chung in BSGE und SozR vorgesehen ‑ und B 12 KR 3/23 R). Wie sich aus der Bezugnahme des LSG auf die Entscheidungsgründe des SG ergibt, ist die Klägerin mangels hinreichender Vorver­sicherungszeiten nicht pflichtversichert.

4. Das LSG entscheidet im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Re­visionsverfahrens.

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