Bundessozialgericht

Bundessozialgericht Urteil vom 19.12.2024, B 5 R 9/23 R

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Januar 2023 wird zurückgewiesen. 

Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer höheren Regelaltersrente unter Zugrundlegung eines ungekürzten Zugangsfaktors für alle der Rente zugrundeliegenden Entgeltpunkte. 

Die im Jahr 1951 geborene Klägerin erlitt auf einer Urlaubsreise im Januar 2009 aufgrund eines Unfalls schwere Verletzungen. In der Folge bewilligte ihr die Beklagte ab August 2009 zunächst eine befristete, später eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung mit einem Zugangsfaktor von 0,892. 

Sowohl die Klägerin als auch die Beklagte machten gegen den Reiseveranstalter Schadensersatzansprüche geltend. Dessen Haftpflichtversicherer lehnte zunächst eine Zahlung an die Beklagte mit der Begründung ab, diese habe ihre Ansprüche nicht rechtzeitig geltend gemacht. Aufgrund einer vergleichsweisen Einigung ersetzte der Haftpflichtversicherer der Beklagten schließlich die aufgrund des Unfalls entgangenen Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, nicht aber die an die Klägerin geleistete Rente wegen Erwerbsminderung.

Mit Bescheid vom 2.2.2017 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine Regelaltersrente ab dem 1.4.2017. Sie legte der Rentenberechnung für die Entgeltpunkte, die bereits Grundlage der Rente wegen Erwerbsminderung gewesen waren, weiterhin einen verminderten Zugangsfaktor von 0,892 zugrunde. Den dagegen erhobenen Widerspruch mit dem Begehren, eine höhere Regelaltersrente zu erhalten, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.5.2017 zurück. 

Das SG hat die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verurteilt, der Klägerin die Regelaltersrente unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 für alle Entgeltpunkte zu gewähren. § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 2 SGB VI sei analog anzuwenden. Die Regelungen zur Bemessung des Zugangsfaktors in Fällen des Drittregresses seien unvollständig (Hinweis auf BSG Urteil vom 13.12.2017 - B 1  R 13/17 R). Die Klägerin müsse von der Beklagten so gestellt werden, als wäre der Schadensfall nicht eingetreten (Urteil vom 4.12.2018)

Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 2 SGB VI sei nicht analog anwendbar. Die vom BSG zu Nr 1 der Vorschrift getroffenen Erwägungen seien zwar auf die Inanspruchnahme von Renten wegen Erwerbsminderung übertragbar. Auch liege eine planwidrige Regelungslücke vor. Es fehle hier aber an einer vergleichbaren Interessenlage. Das BSG habe seine Entscheidung auf die fehlende finanzielle Belastung des Rentenversicherungsträgers sowie der Versichertengemeinschaft gestützt, nachdem dem dortigen Rentenversicherungsträger die Rentenleistung in vollem Umfang erstattet worden sei. Wirtschaftlich betrachtet entspreche dies einem "nicht mehr" Inanspruchnehmen von Entgeltpunkten iS des § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 1 SGB VI. Diese Erwägung lasse sich jedoch nicht auf Sachverhalte wie dem der Klägerin übertragen, in denen kein Leistungsregress hinsichtlich der Rentenleistung durchgeführt worden sei. Der Versichertengemeinschaft sei hier ein finanzieller Nachteil entstanden. Es sei unerheblich, aus welchen Gründen der Leistungsregress unterblieben sei. Die Klägerin könne auch einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht erfolgreich geltend machen (Urteil vom 17.1.2023)

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, sie sei so zu stellen, als habe sie die Entgeltpunkte, die der früheren Rente zugrunde gelegt worden seien, nicht in Anspruch genommen. Die Beklagte habe es versäumt, ihre Regressansprüche rechtzeitig geltend zu machen. Nur deshalb seien die erbrachten Rentenleistungen nicht vom Haftpflichtversicherer des Reiseveranstalters erstattet worden. Aufgrund dieser Pflichtverletzung der Beklagten seien auch die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erfüllt. 

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Januar 2023 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 4. Dezember 2018 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen. 

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

A. Die zulässige Revision der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg und ist deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil zutreffend aufgehoben und die Klage abgewiesen. 

Der Bescheid vom 2.2.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.5.2017 ist, soweit darin die Höhe der der Klägerin bewilligten Regelaltersrente festgesetzt wird, rechtmäßig ergangen und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl § 54 Abs 2 Satz 1 SGG). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Regelaltersrente unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0 für alle Entgeltpunkte.

I. Gemäß § 64 SGB VI ergibt sich der Monatsbetrag einer Rente, indem die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte (§ 66 SGB VI), der Rentenartfaktor (§ 67 SGB VI) und der aktuelle Rentenwert (§ 68 SGB VI) mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Nach § 77 Abs 1 SGB VI richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. Für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer früheren Rente waren, beträgt der Zugangsfaktor bei der Berechnung einer Regelaltersrente 1,0 (§ 77 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI). Für diejenigen Entgeltpunkte, die bereits Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer früheren Rente waren, bleibt nach § 77 Abs 3 Satz 1 SGB VI der frühere Zugangsfaktor maßgebend. Die damit gesetzlich geregelte Perpetuierung des Zugangsfaktors für bereits "verbrauchte" Entgeltpunkte über die gesamte Rentenlaufzeit entspricht der Funktion des Zugangsfaktors, die Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer auszugleichen (§ 63 Abs 5 SGB VI, vgl dazu BSG Urteil vom 18.10.2023 - B 5 R 5/23 R - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - RdNr 24). Im Fall der Klägerin war das der bei der Berechnung der gewährten Rente wegen Erwerbsminderung zugrunde gelegte Zugangsfaktor von 0,892 (§ 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI iVm § 264c Satz 1 SGB VI in der Fassung des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20.4.2007 <BGBl I 554>, der bei Beginn der Erwerbsminderungsrente der Klägerin anwendbar war).

II. Ein höherer Zugangsfaktor war der Berechnung der Regelaltersrente auch nicht gemäß § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 2 SGB VI iVm § 264d Satz 1 SGB VI zugrunde zu legen. Danach wird der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die Versicherte bei einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder einer Erziehungsrente mit einem Zugangsfaktor kleiner als 1,0 nach Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 62. Lebensjahres bis zum Ende des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres nicht in Anspruch genommen haben, um 0,003 je Kalendermonat erhöht (§ 77 Abs 3 Satz 3 Nr 2 SGB VI). Beginnt die Erwerbsminderungsrente, wie hier, vor dem Jahr 2012, ist insoweit der Zeitraum von der Vollendung des 60. Lebensjahres bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres maßgebend (§ 264d Satz 1 SGB VI). Die Voraussetzungen für eine solche Erhöhung des Zugangsfaktors sind hier nicht erfüllt. Die Klägerin hat auch nach Vollendung ihres 60. Lebensjahres alle Entgeltpunkte, die der gewährten Erwerbsminderungsrente zugrunde lagen, in Anspruch genommen ("verbraucht"). Indem ihr in diesem Zeitraum die Rente wegen voller Erwerbsminderung ausgezahlt wurde, hat sie an den Entgeltpunkten, die bereits dieser Rente zugrunde lagen, finanziell partizipiert (vgl BSG Urteil vom 18.10.2023 - B 5 R 5/23 R - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 18).  

III. § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 2 SGB VI iVm § 264d Satz 1 SGB VI findet zugunsten der Klägerin auch keine analoge Anwendung.

1. Die Übertragung der Rechtsfolge eines geregelten Tatbestandes auf einen ihm ähnlichen, vom Gesetzgeber aber nicht geregelten Sachverhalt im Wege der Analogie setzt eine planwidrige Regelungslücke im Gesetz sowie eine Vergleichbarkeit des zu beurteilenden Sachverhaltes in rechtlicher Hinsicht mit dem gesetzlich geregelten Tatbestand voraus. Es muss angenommen werden können, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von denselben Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (stRspr; vgl ua BSG Urteil vom 25.5.2022 - B 11 AL 29/21 R - juris RdNr 19 mwN).

Dabei sind der richterlichen Rechtsfortbildung durch das Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs 3 GG) verfassungsrechtliche Schranken gesetzt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG darf eine richterliche Rechtsfortbildung nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen. Die Aufgabe der Rechtsprechung beschränkt sich vielmehr darauf, den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen oder eine planwidrige Regelungslücke mit den anerkannten Auslegungsmethoden zu füllen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes hintanstellt und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (vgl ua BVerfG Urteil vom 11.7.2012 - 1 BvR 3142/07 - juris RdNr 75; aus jüngerer Zeit vgl auch BVerfG Beschluss vom 28.11.2023 - 2 BvL 8/13 - juris RdNr 130).

2. Hier fehlt es bereits an der für eine Analogie erforderlichen planwidrigen Regelungslücke. Soweit der 13. Senat in seinem Urteil vom 13.12.2017 (B 13 R 13/17 R - BSGE 125, 46 = SozR 4-2600 § 77 Nr 11) in einem besonderen Einzelfall eine Erhöhung des Zugangsfaktors nach vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente in analoger Anwendung von § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 1 SGB VI angenommen hat, lassen sich die dortigen Erwägungen nicht auf den Fall der Klägerin übertragen. 

Der 13. Senat hat entschieden, zumindest, wenn dem Rentenversicherungsträger die von einem Versicherten vorzeitig in Anspruch genommene Altersrente vollständig erstattet werde, sei der Versicherte bei der Berechnung einer darauf folgenden (Regel-)Altersrente so zu stellen, als habe er die Entgeltpunkte, die der früheren Rente zugrunde lagen, iS des § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 1 SGB VI "nicht mehr vorzeitig in Anspruch genommen". Der 13. Senat ist von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen, weil der Gesetzgeber im Hinblick auf einen nachfolgenden Wechsel in eine andere Rente nur Regelungen zu den Folgen eines erfolgreichen Beitragsregresses (§ 119 Abs 4 SGB X und § 75 Abs 4 SGB VI), nicht aber zu denjenigen eines erfolgten Rentenleistungsregresses (§ 116 Abs 1 Satz 1 SGB X) getroffen habe. Der Gesetzgeber habe bei der Einführung des Zugangsfaktors und späteren Änderungen von § 77 SGB VI die Fälle der Erstattung einer bereits in Anspruch genommenen Rente nicht in den Blick genommen. Hätte er das Zusammenspiel von Fortbestand eines abgesenkten Zugangsfaktors der vorangegangenen Rente und Ersatz der hieraus an den Geschädigten erbrachten Rentenleistungen erkannt, wäre er tätig geworden. Der Gesetzgeber sei (irrtümlich) davon ausgegangen, dass mit den getroffenen Regelungen ein Versicherter einem durchgehend Beschäftigten weitgehend gleich und so gestellt werde, als wäre der Schadensfall nicht eingetreten. Die analoge Anwendung des § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 1 SGB VI entspreche auch dessen Regelungszweck, dem Ausgleich eines längeren Rentenbezugs aufgrund vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente. Der Versichertengemeinschaft entstünden keine zusätzlichen Lasten, wenn die Rentenleistungen wegen eines Anspruchsübergangs nach § 116 SGB X im Regressweg von einem Dritten vollständig erstattet worden seien. Wirtschaftlich betrachtet entspreche das dem Fall einer "nicht mehr vorzeitig in Anspruch genommenen" Rente iS der gesetzlichen Regelung (vgl dazu im Einzelnen BSG aaO RdNr 26 ff).  

Es kann dahingestellt bleiben, ob die vom 13. Senat zu einem nach vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersente ausnahmsweise nicht zu kürzenden Zugangsfaktor (§ 77 Abs 3 Satz 3 Nr 1 SGB VI) getroffenen Erwägungen auf die Fälle eines der Regelaltersrente vorangegangenen Bezugs einer Erwerbsminderungsrente nach § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 2 SGB VI dahingehend zu übertragen sind, dass Versicherte in vergleichbaren Fallkonstellationen auch Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit "nicht in Anspruch genommen haben". In der Literatur wird dies jedenfalls nach vollständiger Erstattung solcher Renten über den gesamten Bezugszeitraum befürwortet (dazu Bergner, jM 2018, 158 <160>; Car, VersR 2018, 522 <524>; Plagemann, FD-SozVR 2018, 403065; Weiß, NZS 2024, 156). Im hier zu entscheidenden Fall wurde schon die finanzielle Belastung des Rentenversicherungsträgers und der Versichertengemeinschaft, die aufgrund der unfallbedingten vorzeitigen Rentengewährung entstanden sind, nicht ausgeglichen. Der Haftpflichtversicherer des Reiseveranstalters hat der Beklagten die der Regelaltersrente vorausgegangene Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht erstattet. Für die Versichertengemeinschaft ist es deshalb bei dem finanzieller Nachteil geblieben, der durch den längeren Rentenbezug der Klägerin entstanden ist. Das LSG hat zutreffend ausgeführt, dass bereits dieser Umstand einer analogen Anwendung des § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 2 SGB VI entgegensteht.

3. Der Einwand der Klägerin, die Beklagte habe es versäumt, die Regressansprüche rechtzeitig geltend zu machen, führt zu keinem anderen Ergebnis. 

Nach § 651g Abs 1 Satz 1 BGB in der bis zum 30.6.2018 geltenden Fassung waren Schadensersatzansprüche des Reisenden innerhalb eines Monats nach der vertraglich vorgesehenen Beendigung der Reise gegenüber dem Reiseveranstalter anzumelden. Diese Ausschlussfrist galt nicht nur für den Reisenden selbst, sondern auch für Sozialversicherungsträger zur Anmeldung ihres kraft Gesetzes übergegangenen Anspruchs (§ 116 Abs 1 Satz 1 SGB X). Nach Ablauf der Frist konnte der Sozialversicherungsträger gemäß § 651g Abs 1 Satz 3 BGB aF Ansprüche nur geltend machen, wenn er ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert gewesen ist. Mit Kenntniserlangung musste er die Geltendmachung des Anspruchs unverzüglich nachholen (vgl zum Ganzen BGH Urteil vom 22.6.2004 - X ZR 171/03 - BGHZ 159, 350; BGH Urteil vom 9.6.2009 - Xa ZR 99/06).

Der Senat hat nicht darüber zu entscheiden, ob die Beklagte diese Anforderungen erfüllt und nach Eingang der Schadensmeldung unverzüglich, dh ohne schuldhaftes Zögern iS von § 121 Abs 1 Satz 1 BGB ihre Ansprüche gegenüber dem Reiseveranstalter verfolgt hat. Aus welchen Gründen ein Leistungsregress gemäß § 116 Abs 1 Satz 1 SGB X letztlich nicht durchgeführt wird, ist in Hinblick auf § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 2 SGB VI unerheblich. Für die wirtschaftliche Betrachtung, die eine analoge Anwendung dieser Vorschrift rechtfertigen könnte, sind allein die tatsächlichen Verhältnisse maßgebend. Auf ein etwaiges Verschulden der Beklagten kommt es - wie das LSG zu Recht ausgeführt hat - nicht an.

4. Die Klägerin wird nicht unangemessen benachteiligt, indem ihr eine Berufung auf § 77 Abs 3 Satz 3 Nr 2 SGB VI iVm § 264d Satz 1 SGB VI verwehrt bleibt. Sie konnte den Schaden, den sie durch die teilweise Berücksichtigung eines gekürzten Zugangsfaktors nach § 77 Abs 3 Satz 1 SGB VI bei ihrer Regelaltersrente erleidet, nach den Regelungen des zivilrechtlichen Schadensausgleichs vom Haftpflichtversicherer des Reiseveranstalters ersetzt verlangen und dadurch in Bezug auf die nachfolgende Regelaltersrente einem durchgehend Beschäftigten (weitgehend) gleichgestellt werden (zu den entsprechenden Erwägungen des Gesetzgebers vgl auch BSG aaO RdNr 32 f unter Hinweis ua auf BT-Drucks 15/2678, S 22)

Ein sog Rentenkürzungsschaden kann nach der Rechtsprechung des BGH einem Versicherten verbleiben, wenn er eine Kürzung der Altersrente im Vergleich zu seiner Vermögenssituation ohne den Unfall hinnehmen muss. Während der sog Rentenverkürzungsschaden durch den Anspruch auf Ersatz von Pflichtbeiträgen ausgeglichen und vom Forderungsübergang nach § 119 Abs 1 Satz 1 SGB X erfasst wird, existieren keine sozialrechtliche Regelungen zum sog Rentenkürzungsschaden. Dieser ist nach zivilrechtlichen Grundsätzen gemäß § 249 Abs 2 BGB auszugleichen (vgl BGH Urteil vom 17.10.2017 - VI ZR 423/16 - juris RdNr 45 ff unter Hinweis ua auf BGH Urteil vom 20.12.2016 - VI ZR 664/15).  

Der Klägerin fehlte es auch nicht an der Aktivlegitimation zur Geltendmachung dieses Schadens. Nach § 116 Abs 1 Satz 1 SGB X geht ein auf anderen gesetzlichen Vorschriften beruhender Anspruch auf Ersatz eines Schadens auf den Versicherungsträger oder Träger der Eingliederungshilfe oder der Sozialhilfe über, soweit dieser aufgrund des Schadensereignisses Sozialleistungen zu erbringen hat, die der Behebung eines Schadens der gleichen Art dienen und sich auf denselben Zeitraum wie der vom Schädiger zu leistende Schadensersatz beziehen. Nur im Umfang des gesetzlichen Forderungsübergangs ("soweit") verliert ein Versicherter die für die Geltendmachung seiner Schadensersatzansprüche erforderliche Aktivlegitimation. Dies war hier hinsichtlich des Rentenkürzungsschadens nicht der Fall. 

Etwas anderes galt in dem vom 13. Senat entschiedenen Verfahren (BSG aaO RdNr 5). Dessen Kläger erhielt aufgrund desselben Unfallereignisses eine lebenslange monatliche Verletztenrente, die die Rentenkürzung überstieg. Nur aufgrund der sachlichen und zeitlichen Kongruenz zwischen Sozialleistung und Schadensersatz konnte der dortige Kläger seinen aufgrund des geminderten Zugangsfaktors entstandenen Rentenkürzungsschaden nicht mehr selbst im Zivilprozess gegen den Schädiger geltend machen. Der Anspruch auf Ausgleich der gekürzten Regelaltersrente war auf den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß § 116 Abs 1 Satz 1 SGB X übergegangen. Der BGH hatte deshalb einen entsprechenden Schadensersatzanspruch im damals vorangegangenen Zivilprozess gegen den dortigen Haftpflichtversicherer verneint (vgl BGH Urteil vom 20.12.2016 - VI ZR 664/15 - juris RdNr 4 und 9 ff und zum Ganzen auch Bieresborn in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 116 RdNr 3 ff; Kater in BeckOGK <Kasseler Kommentar>, Stand: 15.11.2024, § 116 SGB X, RdNr 140 ff; Schlaeger/Bruno in Hauck/Noftz, SGB X, 3. ErgLfg 2022, § 116 RdNr 126 ff und zur schadensrechtlichen Beurteilung bei Zusammentreffen von Altersente und Verletztenrente im Vergleich zur sozialrechtlichen Betrachtung vgl Bergner, jM 2018, 158 <160>)

Die Klägerin ist hingegen Inhaberin des Anspruchs auf Ausgleich des Rentenkürzungsschadens geblieben. Ihr stand daher grundsätzlich ein entsprechender Schadensersatzanspruch gegen den Haftpflichtversicherer des Reiseveranstalters zu. Eine doppelte Inanspruchnahme des Haftpflichtversicherers (vgl dazu Car, VersR 2016, 566 <568>) hätte hier schon deshalb nicht eintreten können, weil dieser der Beklagten die an die Klägerin geleistete Erwerbsminderungsrente gerade nicht erstattete. Sofern der Ausgleichsanspruch der Klägerin möglicherweise aufgrund einer vergleichsweisen Einigung zwischen ihr und dem Haftpflichtversicherer inzwischen nicht mehr bestehen, bereits ausgeglichen oder nicht mehr durchsetzbar sein sollte, würde dies allein auf zivilrechtlichen Grundsätzen beruhen.

IV. Schließlich kann sich die Klägerin zur Begründung einer höheren Regelaltersrente auch nicht mit Erfolg auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen. Dieser stellt auf die Verletzung gesetzlicher Nebenpflichten im Sozialrechtsverhältnis ab. Er kommt zur Anwendung, wenn eine Rechtsgrundlage zur Beseitigung von Fehlerfolgen (zB einer etwaigen Beratungspflichtverletzung) fehlt und hat zur Voraussetzung, dass eine Pflicht des Sozialleistungsträgers bzw Versicherers verletzt wurde, wodurch bei dem Betroffenen kausal ein Nachteil eingetreten ist. Insbesondere aber muss der Zustand, der ohne die Pflichtverletzung bestehen würde, durch eine zulässige Handlung des Verpflichteten herstellbar sein (stRspr; vgl ua BSG Urteil vom 10.4.2024 - B 7 AS 1/23 R - SozR 4-4300 § 92 Nr 1 RdNr 32 mwN, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen)

Es bestehen bereits erhebliche Zweifel, ob die Beklagte aufgrund einer möglicherweise verspäteten Geltendmachung ihres Anspruchs auf Ersatz der geleisteten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eine gerade die Interessen der Klägerin schützende Pflicht verletzt hat. Beim Leistungsregress nach § 116 Abs 1 Satz 1 SGB X wird der Rentenversicherungsträger im Interesse der Versichertengemeinschaft an einem Ausgleich für die an den Geschädigten erbrachten Sozialleistungen tätig (zur insoweit geänderten Funktion der Schadenersatzforderung in der Hand des Sozialversicherungsträgers vgl auch BGH Urteil vom 17.10.2017 - VI ZR 423/16 - juris RdNr 29; dagegen zum Tätigwerden als Treuhänder des Geschädigten im Fall des Beitragsregresses nach § 119 Abs 1 Satz 1 SGB X vgl BGH Urteil vom 18.12.2007 - VI ZR 278/06 - juris RdNr 9 mwN).  

Jedenfalls fehlt es an der weiteren Voraussetzung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, dass der Zustand, der ohne die Pflichtverletzung bestehen würde, durch eine zulässige Handlung des Verpflichteten herstellbar sein muss (vgl zuletzt BSG Urteil vom 10.4.2024 - B 7 AS 1/23 R - juris RdNr 32). Für die von der Klägerin angestrebte Rechtsfolge müsste ein Leistungsregress tatsächlich durchgeführt werden, dh eine Zahlung in Höhe der geleisteten Erwerbsminderungsrente durch den Haftpflichtversicherer an die Beklagte erfolgen. Einen solchen Zustand kann nicht die Beklagte herbeiführen. Ein Leistungsträger kann im Sinne des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs keine Umstände herstellen, die rein tatsächlicher Natur sind und nicht in seinem Macht- bzw Verantwortungsbereich liegen (vgl dazu auch Spellbrink in BeckOGK <Kasseler Kommentar>, Stand: 1.7.2020, Vorbemerkungen zu §§ 13-15 SGB I, RdNr 33).

B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 iVm § 193 Abs 1 und 4 SGG. Soweit das LSG das erstinstanzliche Urteil hinsichtlich der Sachentscheidung geändert und die Klage abgewiesen hat, ohne zugleich die Kostenentscheidung des SG aufzuheben, dürfte es sich um eine offensichtliche Unrichtigkeit iS des § 138 Satz 1 SGG handeln. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind daher in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.

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