Bundessozialgericht

Opferentschädigung bei Alkoholmissbrauch der Mutter in der Schwangerschaft?

Ausgabejahr 2020
Nummer 20
Datum 17.09.2020

Kann Opferentschädigung verlangen, wer vor der Geburt durch den fortgesetzten Alkoholmissbrauch seiner Mutter in der Schwangerschaft geschädigt wird? Mit dieser Frage befasst sich der 9. Senat des Bundessozialgerichts in seiner Sitzung am 24. September 2020 um 10.00 Uhr (Aktenzeichen B 9 V 3/18 R).

Die Klägerin ist wegen einer globalen Entwicklungsverzögerung bei Alkohol-Embryopathie schwerbehindert. Sie beantragte im Jahre 2009 Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz, weil sie durch ein "Alkohol-Syndrom" der leiblichen Mutter in der Schwangerschaft geschädigt worden sei. Der Beklagte lehnte den Antrag ab. Alkoholmissbrauch sei das Erscheinungsbild einer Suchterkrankung und stelle kein strafrechtlich relevantes Verhalten dar. Das ungeborene Leben sei keine rechtsfähige natürliche Person. Sozialgericht und Landessozialgericht haben die Klage nach Vernehmung der leiblichen Eltern als Zeugen abgewiesen. Zwar sei davon auszugehen, dass die Mutter durch vorgeburtlich wiederholten und erheblichen Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft auf das ungeborene Leben eingewirkt und die Klägerin geschädigt habe. Auch sei davon auszugehen, dass die Mutter mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe. Es fehle jedoch an einem rechtswidrigen Angriff, weil keine Norm des Strafgesetzbuchs verletzt und insbesondere keine Anhaltspunkte für einen versuchten Schwangerschaftsabbruch ersichtlich seien.

Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 1 Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 Opferentschädigungsgesetz. Es liege ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff vor. Die Leibesfrucht (nasciturus) sei vom Schutzbereich des Opferentschädigungsgesetzes umfasst. Das Opferentschädigungsgesetz knüpfe nicht explizit an die Strafbarkeit nach dem Strafgesetzbuch an. In verfassungskonformer Auslegung des Opferentschädigungsgesetzeses müsse die gesamte Rechtsordnung betrachtet werden, die den nasciturus insbesondere auch gegenüber der Mutter schütze. Der nasciturus sei aber auch im Strafrecht geschützt. In dem Verhalten der Mutter sei ein versuchter Schwangerschaftsabbruch im Sinne des § 218 Absatz 4 Satz 1 Strafgesetzbuch zu sehen.

Hinweis auf Rechtsvorschriften

Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten -
Opferentschädigungsgesetz - OEG (idF des Gesetzes vom 11.5.1976, BGBl I 1181)

§ 1 Anspruch auf Versorgung

(1) 1Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. 2Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.

(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich

1. die vorsätzliche Beibringung von Gift,

2. …

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