Bundessozialgericht

Voraussetzungen für die Nutzung von Behindertenparkplätzen auf dem Prüfstand - Erfordert das Merkzeichen aG eine Gehunfähigkeit in allen Lebenslagen?

Ausgabejahr 2023
Nummer 5
Datum 03.03.2023

Unter welchen Voraussetzungen kann schwerbehinderten Menschen das Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) zuerkannt werden, das unter anderem zur Nutzung von sogenannten “Behindertenparkplätzen“
berechtigt und weitere Parkerleichterungen nach sich zieht? Bereits zum 30. Dezember 2016 hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen für die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung neu geregelt. Eine Entscheidung des Bundessozialgerichts zu der neuen Rechtsgrundlage ist bisher nicht ergangen.
Der 9. Senat des Bundessozialgerichts wird am 9. März 2023 im Elisabeth-Selbert-Saal in zwei Revisionsverfahren darüber entscheiden, ob den Klägern das Merkzeichen aG zusteht.

1) Merkzeichen aG trotz Gehfähigkeit unter Idealbedingungen?
Der 1972 geborene Kläger des ersten Verfahrens (Aktenzeichen B 9 SB 1/22 R, 13:30 Uhr) leidet unter anderem an einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung. Es fällt ihm schwer, geringste Unebenheiten am Boden auszugleichen, sodass es in den letzten Jahren häufig zu plötzlichen ungebremsten Stürzen gekommen ist. Zwar ist ihm das Gehen auf einem Krankenhausflur möglich, nicht jedoch das Gehen in einem normalen Lebensumfeld mit Bordsteinkanten, abfallenden und ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten. Eine freie Gehfähigkeit ohne Selbstverletzungsgefahr besteht nicht mehr.

Das Landessozialgericht hat die Voraussetzungen des Merkzeichens aG bejaht, weil die Gehfähigkeit des Klägers im normalen Lebensumfeld und nicht in einem idealen Umfeld eines Krankenhausflurs maßgeblich sei.

Mit seiner Revision macht der beklagte Landkreis geltend, das Landessozialgericht habe zu Unrecht nur auf ein von ihm definiertes “normales Lebensumfeld“ abgestellt. Tatsächlich komme es auf eine Teilhabebeeinträchtigung in allen Lebenslagen an.

2) Merkzeichen aG trotz Gehfähigkeit in vertrauter Umgebung?

Im zweiten Verfahren (Aktenzeichen B 9 SB 8/21 R, 14:45 Uhr) leidet der 2009 geborene Kläger an einem angeborenen Gendefekt mit globaler Entwicklungsstörung. In vertrauten Situationen im schulischen oder häuslichen Bereich kann er frei gehen, während er sein motorisches Potenzial in unbekannter Umgebung wegen seiner psychischen Beeinträchtigung nicht ausschöpfen kann. Dort benötigt er beim Gehen die Hilfe einer ihm bekannten Begleitperson, auf deren Unterarm er sich abstützen oder mit deren Hilfe er im Rollstuhl oder Reha-Buggy transportiert werden muss.

Das Landessozialgericht hat die Voraussetzungen des Merkzeichens aG bejaht. Die Parkvergünstigung durch dieses Merkzeichen sei gerade auf eine fremde Umgebung ausgerichtet.

Mit seiner Revision rügt das beklagte Land, das Landessozialgericht habe zu Unrecht den Beurteilungsmaßstab zugunsten des Klägers auf dessen Gehfähigkeit in einer fremden Umgebung und damit auf ausgewählte Lebenslagen reduziert.

Hinweise zur Rechtslage:
§ 229 SGB IX in der Fassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 (BGBl I 3234):
(1) …
(3) 1Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. 2Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. 3Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung - dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen - aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. 4Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. 5Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleich kommt.

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