Bundessozialgericht

Verhandlung B 2 U 8/16 R

Verhandlungstermin 23.01.2018 11:00 Uhr

Terminvorschau

J. K. ./. Unfallkasse Baden-Württemberg
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger bei einer Videoaufnahme als Schüler in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war.

Der Kläger war Schüler einer Realschule. Im Rahmen des Musikunterrichts wurde die Thematik "Musik und Werbung" bzw "Wirkung von Musik" bearbeitet. Zunächst wurde im Unterricht die theoretische Grundlage erarbeitet, danach sollten in Kleingruppen Werbeclips hergestellt werden. Die Aufgabe bestand darin, einen Werbeclip zu einem bestimmten Produkt zu filmen, zu schneiden, zu bearbeiten und mit passender Musik zu unterlegen. Zunächst war vorgegeben, dass der Werbeclip während des Musikunterrichts auf dem Schulgelände gedreht werden sollte. Auf Bitten der Schüler erhielten diese von der Musiklehrerin die Möglichkeit, den Werbeclip auch außerhalb des Schulunterrichts im privaten Bereich zu drehen. Vorgegeben war der Abgabetermin, nicht aber Drehzeit und Drehort. Von dieser Möglichkeit machte die Hälfte der Schüler Gebrauch. Am 7.3.2013 traf sich der Kläger nachmittags mit drei Mitschülern zuhause bei einem Mitschüler, um den Werbeclip zu drehen, in dem er mehrere Szenen spielen sollte. Er war der Annahme, er werde gefilmt, während er mit einem Getränk aus der Haustür herauskam. Tatsächlich war der Akku des Aufnahmegeräts leer. Als er das merkte, verließ er wütend den Drehort in Richtung nach Hause. Einer der Mitschüler verfolgte ihn und rempelte ihn mit dem Ellenbogen an. Hierbei stolperte der Kläger, fiel auf den Rücken und schlug mit dem Kopf auf. Nach zwei Operationen wurde der Kläger ins künstliche Koma versetzt. Seit dem Ereignis ist der Kläger rollstuhlpflichtig und wird mittlerweile in einer Internats-Schule für Körperbehinderte Menschen beschult. Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Ereignisses als Versicherungsfall der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, bei der Erledigung von Hausaufgaben handele es sich nicht um eine versicherte Tätigkeit, denn diese sei unmissverständlich aus dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule herausgenommen und uneingeschränkt dem privaten Bereich zugewiesen. Dem ist das SG gefolgt.

Das LSG hat die Bescheide der Beklagten und das Urteil des SG aufgehoben. Der Kläger habe unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden, weil die Videoaufnahmen im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule stattgefunden hätten. Gruppenprojektarbeit, bei der der schulorganisatorische Rahmen gelockert werde, könne eine organisatorisch von der Schule getragene Unternehmung sein, auch wenn sie im häuslichen Bereich stattfinde. Wenn die Schule den minderjährigen Schülern die Entscheidung überlasse, ob und wie sie eine Unterrichtsaufgabe erledigten und sie dann nicht mehr beaufsichtige, führe dieser "aufgelockerte" Schulunterricht nicht dazu, dass die gesetzliche Schülerunfallversicherung entfalle. Der Schutzbereich der Unfallversicherung decke diese Formen modernen Unterrichts ab.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 2 Abs 1 Nr. 8 b SGB VII. Es habe für die Schule keinerlei Möglichkeit mehr bestanden, Einfluss auf die "Dreharbeiten" zu nehmen. Diese hätten im nicht versicherten, rein privaten Bereich stattgefunden, für den alleine die Eltern des Klägers die Verantwortung trügen.

Sozialgericht Heilbronn - S 3 U 4483/13
Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 6 U 4904/14 -

Terminbericht

Die Revision hatte keinen Erfolg. Zu Recht hat das LSG die Beklagte verpflichtet, das Ereignis vom 7.3.2013 als Arbeitsunfall festzustellen. Der Kläger ist verunglückt, als er den mit der versicherten Tätigkeit als Schüler zusammenhängenden unmittelbaren Weg iS des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII von dem Ort der Tätigkeit zurücklegte. Schüler sind nach § 2 Abs 1 Nr 8 b SGB VII während des Besuchs allgemeinbildender Schulen versichert. Der Versicherungsschutz ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule begrenzt. Dieser erfordert im Regelfall einen unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zum Schulbesuch, der dann nicht mehr vorliegt, wenn schulische Aufsichtsmaßnahmen nicht mehr gewährleistet sind. Allerdings kann auch dann Versicherungsschutz in der Schülerunfallversicherung bestehen, wenn der räumlich-zeitliche Zusammenhang (zB bei Klassenfahrten, Museums- und Theaterbesuchen ggf außerhalb der Unterrichtszeit) oder wirksame schulische Aufsichtsmaßnahmen (zB bei Schülerbetriebspraktika im In- und Ausland) weitgehend gelockert sind. Deshalb kann auch ein außerschulischer Lernort "Ort der Tätigkeit" und damit zugleich Start- und Zielpunkt eines nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten Weges sein. Ein "Besuch der Schule", wie ihn § 2 Abs 1 Nr 8 b SGB VII tatbestandlich voraussetzt, findet folglich nicht nur im Schulgebäude und auf dem Schulgelände statt. Umgekehrt bedeutet dies jedoch nicht, dass an allen außerschulischen Lernorten für alle dort verrichteten schulbezogenen Tätigkeiten Unfallversicherungsschutz besteht. Der Schutzbereich der Gesetzlichen Unfallversicherung endet - jedenfalls bei Minderjährigen wie dem Kläger - dort, wo der elterliche Verantwortungsbereich (Art 6 Abs 2 Satz 1 GG, §§ 1626 ff BGB) beginnt. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats, an der er ausdrücklich festhält, besteht kein Unfallversicherungsschutz, wenn Schüler ihre Hausaufgaben zu Hause erledigen. Dagegen ist Unfallversicherungsschutz für Tätigkeiten bejaht worden, die "im Auftrag" oder "auf Anordnung" einer Lehrperson erfolgten (Besorgen von Tümpelwasser für den Unterricht), wobei der Versicherungsschutz ausdrücklich auch auf das Handeln in einer schulisch initiierten Gruppe zum Austausch von Schulbüchern ohne schulische Aufsicht erstreckt wurde. Es handelt sich folglich nicht mehr um eine unversicherte "Hausaufgabe", wenn Lehrpersonen aus organisatorischen oder pädagogischen Gründen eine Gruppe von Schülern für ein gemeinsames Tun zusammenstellen, das sich außerhalb der Schule selbstorganisiert fortsetzt. Das gilt auch, wenn diese Gruppenarbeit gemeinsam im häuslichen Bereich eines Mitschülers verrichtet wird. Denn dieser Lernort ist mit Ausnahme des "gastgebenden" Mitschülers für alle anderen Gruppenmitglieder fremd, und die Gruppenarbeit ist für sie keine im privaten Verantwortungsbereich zu erledigende "Hausaufgabe". Realisiert sich bei der schulisch initiierten (Projekt-)Arbeit in einer durch die Schule gebildeten Gruppe eine gruppentypische Gefahr, so besteht für alle Gruppenmitglieder Unfallversicherungsschutz mit gleichzeitiger Haftungsbeschränkung nach § 106 Abs 1 SGB VII. Der erforderliche zeitlich-räumliche Schulbezug besteht darin, dass die Schule aus der Menge aller Schüler (einer Klasse) eine Gruppe bildet und ihr bestimmte Aufgaben zuweist, die die Schüler als Teil dieser Gruppe gemeinsam lösen sollen. Daher findet während einer schulisch veranlassten Gruppenarbeit für jedes Gruppenmitglied "Schule" (und damit ein "Schulbesuch") ausnahmsweise an dem Ort und zu dem Zeitpunkt statt, an dem sich die Gruppe innerhalb oder außerhalb des Schulgeländes zur Durchführung der Projektarbeit trifft. Die Schüler wurden hier zur Verwirklichung staatlicher Bildungs- und Erziehungsziele, die ihre Grundlage in der staatlichen Schulhoheit (Art 7 Abs 1 GG) finden, füreinander "in Dienst genommen", was ihren Unfallversicherungsschutz bei gleichzeitiger Haftungsbeschränkung rechtfertigt. Dies gilt umso mehr als das Unfallgeschehen durch einen jugendtypischen Gruppenprozess ausgelöst wurde, dessen Ursache letztlich in der Zusammenstellung der Gruppe durch die Lehrkraft lag. Maßgebend ist damit im vorliegenden Fall die schulisch veranlasste und verantwortete Gruppenarbeit. Als Teil des "Filmteams", das die Musiklehrerin im Unterricht aus Schülern zusammengestellt hatte, verrichtete der Kläger als "Schauspieler" am Drehort für die Erstellung des Werbeclips versicherte Tätigkeiten im Rahmen des projektbezogenen Schulbesuchs.

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