Bundessozialgericht

Verhandlung B 5 RE 1/17 R

Verhandlungstermin 22.03.2018 10:00 Uhr

Terminvorschau

A. H. ./. Deutsche Rentenversicherung Bund
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Kläger für die Zeiträume vom 1.6.2007 bis 31.12.2007 und vom 1.1.2009 bis 30.6.2009 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreien und der Kläger hierfür Beiträge zahlen muss. Dabei geht es im Wesentlichen um die Frage, wann der dreijährige Befreiungszeitraum des § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB VI beginnt.

Der Kläger ist seit dem 1.12.2003 in der Vermittlung von Versicherungen und Geldanlagen selbstständig tätig, zunächst für die A Versicherung, ab dem 1.1.2007 für die M Krankenversicherung. Der Kläger beschäftigte bis zum 30.6.2006 eine Büroleiterin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden gegen eine Vergütung von 1.000 Euro monatlich. Mit Bescheiden vom 16.7.2007 stellte die Beklagte die Versicherungspflicht als Selbstständiger nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI ab dem 1.7.2006 fest. Zuvor hatte der Kläger in einem Telefonat der Beklagten am 1.6.2007 mitgeteilt, er habe zunächst einen rentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigt. Ebenfalls unter dem 16.7.2007 setzte die Beklagte für die Zeit ab dem 1.7.2006 die monatlichen Beitragshöhen fest. Dagegen erhob der Kläger Widerspruch. Die Beklagte sah darin gleichzeitig einen Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht für die Zeit vom "1.12.2003 bis 1.12.2006" und lehnte diesen ab. Auf den weiteren Widerspruch und Befreiungsantrag lehnte die Beklagte auch eine Befreiung von der Versicherungspflicht ab 1.1.2007 ab. Gegen diese Entscheidungen der Beklagten (Bescheid vom 25.1.2008 und Widerspruchsbescheid vom 3.3.2009) hat der Kläger Klage erhoben. Während des Verfahrens vor dem SG hat die Beklagte weitere Bescheide erlassen: Mit Bescheid vom 11.4.2012 hat die Beklagte die Versicherungsfreiheit des Klägers in der Zeit vom 1.1.2008 bis 31.12.2008 wegen Geringfügigkeit festgestellt und die seit 1.7.2006 rückständigen Beiträge festgesetzt. Weitere Beitragsfestsetzungen sind erfolgt mit zwei Bescheiden vom 14.11.2013. Der Kläger hat auch die Aufhebung dieser Bescheide beantragt. Nach Aussetzung des Verfahrens vor dem SG hat die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12.6.2014 den Widerspruch gegen den Bescheid vom 16.7.2007, soweit ihm nicht durch die Bescheide vom 11.4.2012 und vom 14.11.2013 abgeholfen worden ist, zurückgewiesen. Das SG hat die Beklagte verurteilt, den Kläger für die Zeiträume vom 1.6.2007 bis 31.12.2007 und vom 1.1.2009 bis 30.6.2009 von der Versicherungspflicht zu befreien (Urteil vom 14.10.2014). Das SG hat außerdem den Bescheid vom 25.1.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3.3.2009 aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht und den Bescheid vom 14.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.6.2014 aufgehoben, soweit er eine Beitragserhebung für diese Zeiträume beinhaltet. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen.

Das SG hat dies damit begründet, der Kläger habe eine Tätigkeit, die die Voraussetzungen des § 2 S 1 Nr 9 SGB VI erfüllte, erstmals am 1.7.2006 ausgeübt. Hiernach bestimme sich der Beginn des Dreijahreszeitraums für die Befreiung von der Versicherungspflicht. Die Befreiung wirke hier vom Eingang des Antrags an. Der Kläger werde im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt, als hätte er den Befreiungsantrag bereits am 1.6.2007 gestellt. Aus der telefonischen Mitteilung des Klägers vom 1.6.2007 sei für die Beklagte erkennbar gewesen, dass der Kläger seine Beitragsbelastung möglichst gering halten wollte und dass in Folge der zunächst gegebenen Beschäftigung eines versicherungspflichtigen Arbeitnehmers eine Befreiung von der Versicherungspflicht in Betracht komme. Eine entsprechende Antragstellung sei eine erkennbare, naheliegende Gestaltungsmöglichkeit, die der Kläger aller Voraussicht nach wahrgenommen hätte. Die Berufung der Beklagten hat das LSG Thüringen zurückgewiesen und im Wesentlichen auf die erstinstanzliche Entscheidung verwiesen (Urteil vom 11.1.2017). Die Beklagte wendet sich hiergegen mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision. Sie ist der Auffassung, für den Beginn des Dreijahreszeitraums der Befreiung von der Versicherungspflicht sei auf die Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit am 1.12.2003 abzustellen.

Sozialgericht Altenburg - S 2 R 1039/09
Thüringer Landessozialgericht - L 3 R 19/15

Terminbericht

Die Revision der Beklagten war im Sinn der Aufhebung und Zurückverweisung erfolgreich. Der Senat kann auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht entscheiden, ab wann eine dem Kläger zu erteilende Befreiung wirkt. Hiervon hängt gleichzeitig ab, für welche Zeiträume der Kläger zur Zahlung von Beiträgen verpflichtet ist.

Für die von den Vorinstanzen ausgeurteilten Zeiten vom 1.6.2007 bis 31.12.2007 und vom 1.1.2009 bis 30.6.2009 kommt ein Anspruch des Klägers auf Befreiung von der Rentenversicherungspflicht als sog arbeitnehmerähnlicher Selbstständiger nach § 6 Abs 1a Satz 1 Nr 1 SGB VI grundsätzlich in Betracht. Als einzige tatbestandsmäßige Voraussetzung dieser Norm ist die Versicherungspflicht nach § 2 Satz 1 Nr 9 SGB VI durch die entsprechenden Regelungen in den Bescheiden vom 16.7.2007 aufgrund ihrer Tatbestandswirkungen im Verhältnis der Beteiligten und für die Gerichte verbindlich geklärt. Eine weitere Prüfung ist damit weder zulässig noch erforderlich.

Der Streit der Beteiligten betrifft folgerichtig allein die Rechtsfolge des § 6 Abs 1a Satz 1 Nr 1 SGB VI und dort die Frage nach dem Beginn des für eine Befreiung äußerstenfalls in Betracht kommenden Zeitraums. Der Normwortlaut der Nr 1 "für einen Zeitraum von 3 Jahren nach erstmaliger Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit, die die Merkmale des § 2 Satz 1 Nr. 9 erfüllt", gibt entgegen der Auffassung des LSG weder Anlass, auch insofern den Eintritt von Versicherungspflicht zu verlangen, noch rechtfertigt er entgegen der Revision ein Verständnis, demzufolge bereits die bloße Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit genügen könnte.

Generell ergibt sich Versicherungspflicht erst aus der Zusammenschau einer Mehrheit normativer Anordnungen und kann erst dann bejaht werden, wenn neben den Voraussetzungen eines die Versicherungspflicht anordnenden Grundtatbestandes nicht gleichzeitig gesetzliche Tatbestands- oder Rechtsfolgenreduktionen eingreifen, Regelungen zur Versicherungsfreiheit einschlägig sind, oder eine im Einzelfall vorrangige Befreiung zu beachten ist. Eine derartige vom Grundtatbestand des § 2 Satz 1 Nr 9 SGB VI ausgehende - hiermit aber nicht endende - umfassende Prüfung erfordert § 6 Abs 1a Satz 1 SGB VI lediglich als tatbestandsmäßige Voraussetzung eines Befreiungsanspruchs ("Personen, die nach § 2 Satz 1 Nr. 9 versicherungspflichtig sind…"). Dies ergibt sich bereits daraus, dass rechtlich und sprachlogisch eine "Befreiung" nur beim Bestehen von Versicherungspflicht in Betracht kommen kann (so auch die stRspr des BSG, etwa BSGE 95, 238, 243). Dagegen nimmt das Gesetz für den Beginn des Dreijahreszeitraums auf der Rechtsfolgenseite lediglich die "Merkmale des § 2 Satz 1 Nr. 9," in Bezug, verweist also auf die tatbestandlichen Voraussetzungen allein dieser Norm und fordert eine darüber hinaus gehende "Versicherungspflicht" nicht.

Schon die Gesetzesbindung der Verwaltung und der Gerichte verbietet es, den Befreiungszeitraum statt "mit der erstmaligen Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit, die die Merkmale des § 2 Satz 1 Nr. 9 erfüllt," bereits mit der erstmaligen Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit beginnen und den erläuternden Relativsatz unberücksichtigt zu lassen. Die sog Materialien geben keinen durchgreifenden Hinweis auf ein anderes Verständnis der hier in Frage stehenden Regelung. Nichts anderes ergibt sich schließlich aus § 6 Abs 1a Satz 3 SGB VI, der im Rahmen einer Sonderregelung die unterschiedlichen Anknüpfungssachverhalte des Satz 1 aaO - Versicherungspflicht nach § 2 S 1 Nr 9 SGB VI aaO einerseits und Erfüllung der Voraussetzungen dieser Norm andererseits - gerade exakt abbildet und nicht etwa konfundiert.

Der Dreijahreszeitraum einer möglichen Befreiung beginnt damit vorliegend mit der Erfüllung auch der negativen Tatbestandsvoraussetzung des § 2 Abs 1 S 1 Nr 9a SGB VI "… im Zusammenhang mit ihrer selbstständigen Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen …" am 1.7.2006 und endet am 30.6.2009 (§ 187 Abs 2 S 1 BGB, § 188 Abs 2 BGB). Innerhalb dieses Zeitraums kann der Kläger für Zeiten einer gleichzeitigen Versicherungspflicht nach § 2 Satz 1 Nr 9 SGB VI und damit für die beiden vorliegend streitigen Zeiträume ungeachtet des Umstandes befreit werden, dass beide einen mehrjährigen Abstand zur erstmaligen Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit als Handelsvertreter aufweisen. Der Begriff der "Existenzgründungsphase", auf den sich die Beklagte unter Bezugnahme auf die Materialien beruft, ist vorliegend nur insofern einschlägig, als er in § 6 Abs 1a S 1 Nr 1 SGB VI eine normative Ausgestaltung gefunden hat und bestimmt nicht etwa umgekehrt den Regelungsgehalt dieser Norm. Ein weiterer Befreiungszeitraum nach § 6 Abs 1a Satz 2 SGB VI kommt vorliegend nicht in Betracht, weil die selbstständige Tätigkeit des Klägers ausgehend von den bindenden Feststellungen des LSG mit dem bloßen Wechsel zu einem anderen Auftraggeber am 1.1.2007 keine relevante Änderung des Geschäftszwecks erfahren hat und es sich damit nach der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung in S 4 aaO nicht um eine "2. selbstständige Tätigkeit" handelt.

Der Senat kann auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des LSG nicht beurteilen, wann der Kläger den für den konkreten Beginn der Befreiung maßgeblichen Antrag (§ 6 Abs 4 S 1 SGB VI) gestellt hat bzw rechtlich so zu behandeln ist, als habe er einen wirksamen Antrag gestellt. Insbesondere fehlt es im Zusammenhang eines grundsätzlich auch hier in Betracht kommenden sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs an weiteren Feststellungen zum Inhalt des Telefonats vom 1.6.2007 und dessen näheren Umständen. Abhängig vom Ergebnis der weiteren Sachaufklärung kämen mehrere weitere Zeitpunkte einer - von der Beklagten offen gelassenen - Antragstellung in Betracht.

Hinweis zur Verwendung von Cookies

Wir verwenden ausschließlich Sitzungs-Cookies, die für die einwandfreie Funktion unserer Webseite erforderlich sind. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir diese Cookies einsetzen. Unsere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den Link Datenschutz.

OK