Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 6/18 R

Verhandlungstermin 08.08.2019 09:30 Uhr

Terminvorschau

S. ./. Deutsche Rentenversicherung Knappschaft/Bahn/See als Trägerin der Krankenversicherung
Der Kläger erlitt im April 2015 einen Herzinfarkt, der zu Arbeitsunfähigkeit (AU) und ua zur Zahlung von Krankengeld (Krg) ab 24.4.2015 sowie Übergangsgeld führte. Der Hausarzt stellte am 4.8.2015 eine AU-Bescheinigung für die Zeit vom 5.8. bis 19.8.2015 aus und übersandte sie in einem ihm - ebenso wie anderen Ärzten - von der Beklagten zur Verfügung gestellten Freiumschlag an diese. Dennoch erlangte die Beklagte erst im Rahmen einer persönlichen Vorsprache des Klägers am 20.8.2015 hiervon Kenntnis, also nach Ablauf der in § 49 Abs 1 Nr 5 SGB V geregelten 1-wöchigen Meldefrist für die AU. Sie stellte deshalb für die Zeit vom 5.8. bis 19.8.2015 das Ruhen des Krg-Anspruchs fest und lehnte die Krg-Zahlung für diesen Zeitraum ab.

Das SG hat die Beklagte zur Zahlung von Krg verurteilt. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen, weil das im Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) wurzelnde Institut der Nachsichtgewährung dem Fristablauf entgegenstehe. Hier habe der Kläger alles in seiner Macht stehende getan, um ab 5.8.2015 wieder Krg zu erlangen. Er habe rechtzeitig seinen Arzt aufgesucht, der nach Untersuchung die weitere AU festgestellt habe. Nach den ihm von seinem Arzt gegebenen Informationen und der zuvor geübten Praxis habe er davon ausgehen müssen, dass der Arzt sich unter Nutzung der von der Beklagten zur Verfügung gestellten Freiumschläge um die Weiterleitung der AU-Bescheinigung an die Beklagte kümmern werde. Da ihm das für die Beklagte bestimmte Exemplar der AU-Bescheinigung gar nicht erst ausgehändigt worden sei, sei es ihm unzumutbar gewesen, zusätzlich persönlich für eine Übermittlung an die Beklagte zu sorgen. Schon die Überlassung der Freiumschläge an den behandelnden Arzt stelle eine "Fehlentscheidung" der Beklagten dar, die damit auch das Risiko eines Übermittlungsversagens trage, selbst wenn der gewählte Weg für die Versicherten nicht verpflichtend gewesen sei.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 49 Abs 1 Nr 5 SGB V) und meint, die Meldeobliegenheit sei strikt auszulegen. Ein Versicherter könne sich bei einer unterbliebenen oder verzögerten Meldung nicht auf ein fehlendes eigenes Verschulden berufen. Der Fall biete unter dem Aspekt des umstrittenen Rechtsinstituts der "Nachsichtgewährung" keinen Anlass, vom Ruhen des Krg-Anspruchs ausnahmsweise abzusehen. Wenn der Gesetzgeber an die verspätete Meldung der AU einen Ruhenstatbestand knüpfe, sei dies für Verwaltung und Rechtsprechung bindend. Zudem sei der Kläger nicht durch eine von der Krankenkasse (KK) zu vertretende Fehlentscheidung gehindert gewesen, seine AU zu melden (zB telefonisch, durch Aufsuchen der Geschäftsstelle oder durch Übermittlung der Bescheinigung in Kopie oder per Fax). Schon rein sprachlich sei die Überlassung von Freiumschlägen an einen Arzt nicht als "Fehlentscheidung" der KK zu qualifizieren.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Aachen - S 15 KR 10/16, 16.02.2017
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 5 KR 265/17, 01.02.2018

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 35/19.

Terminbericht

Die Revision der Beklagten ist erfolglos geblieben. Der Anspruch des Klägers auf Krankengeld (Krg) ruhte im streitigen Zeitraum nicht deshalb, weil die Meldung seiner Arbeitsunfähigkeit (AU) an die Beklagte nach § 49 Abs 1 Nr 5 SGB V nicht spätestens innerhalb einer Woche nach Beginn der AU erfolgt war. Dem stehen Besonderheiten des zugrunde liegenden Sachverhalts entgegen. Nach stRspr des BSG ist die Meldung der AU zwar eine Obliegenheit des Versicherten. Er hat daher die Folgen eines unterbliebenen oder nicht rechtzeitigen Zugangs der Meldung grundsätzlich auch dann selbst zu tragen, wenn ihn daran kein Verschulden trifft, etwa wenn die AU-Bescheinigung von ihm rechtzeitig zur Post gegeben wurde, aber auf dem Postweg verloren gegangen ist (zuletzt BSG Urteil vom 25.10.2018 - B 3 KR 23/17 R - Juris RdNr 19, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Andererseits hat der 3. Senat bereits entschieden, dass dies nicht gilt, wenn für den nicht rechtzeitigen Zugang der AU-Bescheinigung Umstände verantwortlich zu machen sind, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen zuzurechnen sind. Derartiges hat das BSG zB bejaht, wenn Organisationsmängel der Krankenkassen zur Verspätung führten oder wenn dem Versicherten aufgrund medizinischer oder nicht medizinischer Fehleinschätzungen des Arztes eine AU-Bescheinigung zu Unrecht nicht erteilt wurde (vgl Urteil vom 11.5.2017 - B 3 KR 22/15 R, Juris RdNr 25 ff = BSGE 123, 134). Die maßgeblichen Erwägungen bei zu Unrecht gar nicht erst erfolgter Erstellung einer AU Bescheinigung müssen aber erst recht gelten, wenn - wie im Falle des Klägers - der Arzt die AU zwar sogar festgestellt hat, es aber nicht zur Aushändigung der zur Weiterleitung an die Krankasse bestimmten Ausfertigung der AU-Bescheinigung an den Versicherten gekommen ist. Wie der Senat in seinem Urteil vom 25.10.2018 - B 3 KR 23/17 R ausgeführt hat, darf ein Versicherter zwar grundsätzlich nicht darauf vertrauen, ihm werde die AU-Meldeobliegenheit gegenüber der KK abgenommen, wenn der Vertragsarzt ihm die zur Vorlage an die Krankenkasse bestimmte Ausfertigung der AU-Bescheinigung aushändigt. In Fällen aber, in denen Arzt und Versicherter übereinstimmend berechtigterweise davon ausgehen dürfen, dass die Arztpraxis die Übersendung der AU-Bescheinigung an die Krankenkasse übernimmt, steht die unterbliebene Aushändigung der AU-Bescheinigung zur Weiterleitung einer gar nicht erst erstellten AU-Bescheinigung gleich. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Arzt gegenüber dem Versicherten - gebilligt durch ein Verhalten der Krankenkasse - den Eindruck erweckt, er (der Arzt) werde die AU abweichend von der gesetzlichen Obliegenheit des Versicherten selbst der Krankenkasse melden. Die durch die Überlassung von Freiumschlägen von der Beklagten geschaffene Vertrauensgrundlage für die anderen Beteiligten rechtfertigt es, der Beklagten Fehler und Fehlleitungen, die in diesen Zusammenhang auftreten, als eigene zuzurechnen; denn der Versicherte hat dann keine Veranlassung, nochmals von sich aus an die Krankenkasse heranzutreten. Der Zurechnungsgrund ergibt sich aus ähnlichen Rechtsgedanken, wie sie im Zivilrecht für die Verantwortlichkeit bei der Abgabe von Willenserklärungen Dritter nach den Grundsätzen über die Anscheins- oder Duldungsvollmacht gelten. Führt das Verhalten einer Krankenkasse durch die planmäßige Überlassung von Freiumschlägen an einen Arzt für die Übersendung der AU-Bescheinigung an die Krankenkasse dazu, dass bei dem Versicherten der Eindruck entsteht, dass gar keine Veranlassung für die eigene Übermittlung der Bescheinigung mehr besteht, trägt die Krankenkasse auch selbst das Übermittlungsrisiko. Für das gewonnene Ergebnis kommt es nicht darauf an, ob es - mit dem LSG - ebenso aus dem "Institut der Nachsichtgewährung" (vgl BSG Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80, BSGE 52, 254) oder über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hergeleitet werden könnte.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 35/19.

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