Bundessozialgericht

Verhandlung B 2 U 8/18 R

Verhandlungstermin 26.11.2019 13:00 Uhr

Terminvorschau

B.H. ./. Unfallversicherung Bund und Bahn
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger als Fahrdienstleiter der DB Netz AG am 25.11.2011 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Der 1962 geborene Kläger nahm an diesem Tag einen Beinahe-Zusammenstoß eines Pkw mit einem Zug wahr. In dem Bericht des Durchgangsarztes ist ausgeführt, dass er Entsprechendes nicht das erste Mal erlebt habe, weshalb ihn das Ereignis überfordert und innerlich beunruhigt habe. Seitens des Städtischen Klinikums D. wurde der Verdacht einer traumatischen Belastungsstörung geäußert. Im Nachschaubericht hielt eine Durchgangsärztin fortbestehende innere Unruhe ("stehe wie neben mir") sowie Schlafstörungen fest. Eine psychotherapeutische Mitbehandlung sei dringend erforderlich. Auf telefonische Nachfrage der Beklagten teilte die Ärztin ergänzend mit, es habe keine Verletzten gegeben, weil der Pkw in der Schranke hängen geblieben und der Fahrer ausgestiegen sei. Durch das Ereignis seien beim Kläger Vorfälle aus 2003 (tödlicher Bahnunfall) sowie 2009 (Fastzusammenstoß zweier Züge) wieder hervorgerufen worden. Der Kläger teilte der Beklagten mit, er habe aus dem Flachstellwerk die Durchfahrt des Zuges gestellt und die Schranke geschlossen. Dann habe er gesehen, wie ein Auto unter der Schrankenanlage geklemmt habe. Der Zug sei dann vorsichtig am Auto vorbei gefahren, so dass nur am Auto und der Schranke eine leichte Beschädigung aufgetreten sei. Die Beklagte lehnte einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil ein eigentliches Unfallereignis als Ursache eines psychischen Gesundheitsschadens nicht stattgefunden habe. Der Kläger selbst habe sich zu keinem Zeitpunkt in einer lebensbedrohlichen Situation befunden. Allein die Vorstellung eines Unfallereignisses reiche für das Vorliegen eines äußeren Ereignisses nicht aus. Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid abgewiesen. Das Ereignis habe keine Gesundheitsstörung verursacht. Von keinem Facharzt sei eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert worden. Das Geschehen vom 25.11.2011, bei dem der Kläger selbst keiner Lebensgefahr ausgesetzt gewesen sei, habe keine außergewöhnliche Bedrohung katastrophalen Ausmaßes dargestellt, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen könnte. Im Berufungsverfahren hat das LSG ein nervenärztliches Sachverständigengutachten eingeholt, wonach der Kläger an einer mittelgradigen psychosomatischen Störung "iS einer Mischung der ICD 10-Diagnosen F45.1, F34.1, F44 und F41.9" leide, die bis zum 9.12.2011 mit Wahrscheinlichkeit als unfallbedingt anzusehen sei und der danach aufgrund unfallfremder Belastungsfaktoren keine wesentliche ursächliche Bedeutung mehr zukomme. Hierauf gestützt hat das LSG den Gerichtsbescheid des SG und die Bescheide der Beklagten aufgehoben und "das Ereignis vom 25.11.2011 mit einer mehrdimensionalen psychosomatischen Störung (mit Elementen nach ICD-10 F45.1, F34.1, F44 und F41.9) als Arbeitsunfall festgestellt." Die Beinahe-Kollision habe sich bei der versicherten Tätigkeit als beschäftigter Fahrdienstleiter ereignet. Das Geschehen stelle ein "von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis" dar, das die psychosomatische Störung als Wirkung ausgelöst habe. Die äußere betriebsbedingte Einwirkung auf die Psyche des Klägers liege darin, dass er keine fahrdienstlichen Mittel mehr gehabt habe, um die als sicher vorhergesehene Kollision zwischen dem herannahenden Zug und dem Pkw zu unterbinden. Dieser Vorstellung habe ein tatsächlich nachweisbarer, äußerer betriebsbezogener Unfallvorgang zugrunde gelegen. Das Geschehen sei naturwissenschaftliche Bedingung der psychosomatischen Störung. Allerdings seien die gesamten bis heute andauernden Auswirkungen der psychischen Erkrankung keine Unfallschäden mehr; vielmehr beruhe die progrediente psychische Fehlentwicklung - über den 9.12.2011 - hinaus auf unfallfremden Belastungsfaktoren.

Hiergegen wendet sich die Revision der Beklagten. Sie rügt eine Verletzung des § 8 Abs 1 S 2 SGB VII.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Magdeburg - S 46 U 73/12, 20.10.2014
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt - L 6 U 150/14, 19.04.2018

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Terminbericht

Die Revision der Beklagten war im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die Feststellungen des LSG genügen nicht, um abschließend beurteilen zu können, ob der Kläger, der als angestellter Fahrdienstleiter zum Kreis der Beschäftigten gehörte (§ 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII) einen Arbeitsunfall iS des § 8 Abs 1 S 2 SGB VII erlitten hat. Zunächst erscheint es zweifelhaft, ob der Kläger überhaupt eine versicherte Verrichtung ausgeübt hat. Hierfür wäre ein Verhalten erforderlich, das (objektiv) seiner Art nach von Dritten beobachtbar war und deshalb als "Verrichtung" qualifiziert werden könnte. Ob die bloße Vorstellung einer unabwendbaren Kollision zwischen Zug und Pkw sowie die daraus gezogene Schlussfolgerung, das vorausgesehene Geschehen mit "fahrdienstlichen Maßnahmen" nicht mehr verhindern zu können, als Verhalten aufgefasst werden kann, ist zweifelhaft. Zwar hätten Dritte ggf sehen können, dass sich der Kläger zusammengekauert abwendete, als er den Eintritt des Unglücks subjektiv kommen sah, was Rückschlüsse auf sein Denken zuließ. Es stellt sich dann jedoch die Frage, inwiefern das Abwenden von der erwarteten Katastrophe subjektiv - zumindest auch - auf die Erfüllung des Tatbestandes der versicherten Tätigkeit als Fahrdienstleiter ausgerichtet gewesen sein könnte. War der Kläger dagegen - was nach dem geschilderten Sachverhalt ebenfalls nahe liegen könnte und erst noch vom LSG positiv festzustellen ist - objektiv verpflichtet, den Bahnübergang im Interesse der Unternehmerin aus betrieblichen Gründen im Auge zu behalten, hätte er den Schrankendurchbruch des Pkw aufgrund seines beruflichen "Beobachterstatus" auch subjektiv mit dem Willen wahrgenommen, seine versicherte Tätigkeit als Fahrdienstleiter zu erfüllen. Dann hätte zwischen der versicherten Tätigkeit als Fahrdienstleiter und dem Beobachten des Bahnübergangs als Verrichtung zur Zeit der äußeren Einwirkungen eine sachliche Verbindung im Sinne eines inneren Zusammenhangs bestanden, der es rechtfertigen könnte, das Verhalten des Klägers seiner versicherten Tätigkeit zuzurechnen.

Ebenfalls nicht entschieden werden kann aufgrund der Feststellungen des LSG, ob überhaupt ein Unfall iS des § 8 Abs 1 S 2 SGB VII vorlag. Soweit das LSG "die äußere betriebsbedingte Einwirkung auf die Psyche" gerade in der Machtlosigkeit und der subjektiven (Fehl-)Vorstellung gesehen hat, dass die antizipierte Kollision zwischen Zug und Pkw unabwendbar war, handelte es sich dabei um kein von außen auf den Kläger einwirkendes Ereignis im Sinne eines tatsächlichen, die Dinge verändernden Geschehens. Denn die mit dem Gefühl der Hilflosigkeit verbundene und durch den vermeintlichen Kontrollverlust erzwungene Passivität ist gerade kein dynamisches Geschehen, das den Lauf der Dinge ändert, und kann schon deshalb nicht als "Ereignis" qualifiziert werden, das notwendiger Bestandteil eines jeden Unfalls ist. Die aus dem Gefühl der Ohnmacht resultierende psychische Belastung, die im weiteren Verlauf offenbar fehlverarbeitet wurde, kam insofern "von innen", dh aus der Vorstellungswelt des Klägers selbst, und wirkte gerade nicht "von außen" auf ihn ein. Dagegen lag ein zeitlich begrenztes von außen den Kläger einwirkendes Ereignis darin, dass in der realen Außenwelt - objektiv - ein Auto die Schranke durchbrach und sich auf den Bahnübergang zubewegte, den er als Fahrdienstleiter verantwortlich zu sichern hatte.

Unklar bleibt auch, zu welchen Gesundheitsschäden iS des § 8 Abs 1 S 2 SGB VII dieser erst noch festzustellende Unfall (im Sinne eines äußeren Ereignisses) führte. Im Bereich psychischer Störungen sind die Gesundheitsschäden genau zu definieren. Dies setzt zwingend voraus, dass die Störung durch Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme (zB ICD-10, DSM V) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen exakt beschrieben wird. Das LSG hat im Urteilstenor eine "mehr-dimensionale psychosomatische Störung (mit Elementen nach ICD-10 F45.1, F34.1, F44 und F41.9)" als Gesundheitsschaden festgestellt und sich damit für die internationale Klassifikation der psychischen Störungen (ICD-10) entschieden. Es hat jedoch entgegen der dortigen Terminologie eine "psychosomatische Störung" als Haupterkrankung angenommen, obwohl die Allgemeine Einleitung zum ICD-10 dies ausdrücklich ausschließt. Zugleich hat es mehrere Codierungen nebeneinander gestellt, obgleich das ICD-10 weder eine "Mischung" mehrerer Diagnosen noch ihre Einordnung als "Elemente" innerhalb einer Leitdiagnose kennt, sondern nur die Unterscheidung zwischen einer Hauptdiagnose und Neben- bzw Zusatzdiagnosen. Da die Feststellung des Gesundheitsschadens mit dem vom LSG selbst herangezogenen Diagnosesystem unvereinbar ist, kann sie von vornherein keine ausreichende Grundlage für eine Entscheidung des Senats sein

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 53/19.

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