Bundessozialgericht

Verhandlung B 2 U 2/18 R

Unfallversicherung - Wegeunfall

Verhandlungstermin 30.01.2020 11:00 Uhr

Terminvorschau

In den Verfahren B 2 U 2/18 R und B 2 U 20/18 R ist jeweils streitig, ob ein Unfall auf einem Weg zur Arbeitsstätte gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versichert ist, der von einem sogenannten dritten Ort aus angetreten wird. § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versichert das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Hält sich eine versicherte Person mehr als zwei Stunden an einem anderen Ort auf, so kann der danach von dort aus angetretene Weg zur Arbeitsstätte versichert sein. Umstritten ist, ob der von einem dritten Ort aus angetretene Weg in einem angemessenen Verhältnis zur üblichen Entfernung des Wegs zur Arbeitsstätte stehen und ob die Verrichtung an dem dritten Ort in irgendeiner Weise betriebsdienlich sein muss.

M. A. ./. BG Handel und Warenlogistik
Die Beteiligten streiten in einem weiteren Zugunstenverfahren gemäß § 44 SGB X darüber, ob der Kläger am 9.9.2004 einen versicherten Wegeunfall erlitten hat.

Der Kläger war in der Wohnung seiner Eltern in D. polizeilich gemeldet. Er bewohnte dort ein Zimmer und hatte seine gesamte Habe untergebracht. Er war in D. als Auslieferungsfahrer beschäftigt. Nach Feierabend fuhr er in der Regel zunächst in die elterliche Wohnung und nahm dort eine Mahlzeit ein. Danach suchte er regemäßig montags bis freitags seine Freundin in M. auf und übernachtete in ihrer Wohnung, um dann am Folgetag von dort aus mit seinem Pkw zu seiner Arbeitsstätte in D. zu fahren. Damit nutzte er über einen längeren Zeitraum zwei Wohnbereiche und bewegte sich während der Werktage zwischen beiden. Der Weg zwischen der Arbeitsstätte und der Meldeadresse ist 2 km lang, der Weg zur Wohnung der Freundin 44 km. Am Unfalltag verunglückte der Kläger als Pkw-Fahrer auf dem direkten Weg von der Wohnung seiner Freundin, wo er übernachtet hatte, zu seiner Arbeitsstätte in D., wo er seine Tätigkeit als Auslieferungsfahrer aufnehmen wollte. Dabei zog er sich zahlreiche Verletzungen zu. Die Beklagte teilte dem Kläger in einem Schreiben vom 7.7.2005 mit, sie habe Verletztengeld und Heilbehandlung eingestellt, weil der Unfall nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe. Nach der ersten Klageerhebung beschloss ihr Rentenausschuss am 12.10.2005, der Unfall werde nicht als Arbeitsunfall anerkannt und der Verwaltungsakt vom 7.7.2005 nicht aufgehoben. Das SG hat in dem ersten Klageverfahren "unter Änderung des Verwaltungsakts vom 7.7.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 16.8.2005 ... festgestellt, dass der Kläger am 9.9.2004 einen Arbeitsunfall erlitten hat". Das LSG hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BSG verworfen. Ein erster Antrag gemäß § 44 SGB X blieb erfolglos (Bescheide der Beklagten von 2009 sowie Urteil des SG vom 12.7.2011 und Beschluss des LSG vom 20.12.2011). Einen offenbar gestellten zweiten Antrag gemäß § 44 SGB X aus dem Jahre 2012 nahm der Kläger im Klageverfahren vor dem SG zurück.

Den hier zu entscheidenden dritten Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X lehnte die Beklagte 2013 ab, weil das Vorbringen des Klägers keinen Anlass gebe, in eine erneute Sachprüfung einzutreten. Das SG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer ablehnenden Bescheide aus dem Jahre 2013 verurteilt, den Bescheid vom 12.10.2005 zu ändern und das Ereignis vom 9.9.2004 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Die Beklagte sei nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X verpflichtet, die Ablehnungsentscheidung vom 12.10.2005 zurückzunehmen, weil die Feststellung des Arbeitsunfalls zu Unrecht verneint und deshalb zu Unrecht keine Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung erbracht worden seien. Der Kläger sei gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII beim Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach dem Ort der Tätigkeit verunglückt, weil die Wohnung seiner Freundin als Ausgangspunkt des Weges einem erweiterten häuslichen Bereich zuzurechnen sei. Vor allem bei Beginn einer neuen Beziehung benutzten die Partner ihre bisherigen Wohnungen häufig alternierend, sodass die Wege von und zur Arbeit generell an beiden Wohnungen beginnen oder enden könnten. Das müsse jedenfalls dann gelten, wenn beide Wegstecken - wie hier - nicht außerhalb des Bereichs lägen, die pendelnde Arbeitnehmer üblicherweise zurücklegen würden, wobei aufgrund der heute von Arbeitnehmern verlangten Mobilität ein eher großzügiger Maßstab anzulegen sei. Entscheidend sei, ob der versicherte Risikobereich in unangemessener Weise ausgedehnt werde, wenn der Weg anstelle von der Wohnung von einem dritten Ort aus angetreten werde. Dies sei anzunehmen, wenn ungewöhnliche Entfernungen in Frage stünden oder wenn nach den gesamten Umständen andere Gründe als die betriebliche Tätigkeit das Zurücklegen der Wegstrecke prägten, was bei einer Rückreise aus dem Urlaub oder der Rückfahrt nach einem Verwandtenbesuch der Fall sei.

Mit der Revision rügt die Beklagte Verletzungen der §§ 54 Abs 1 Satz 1, 55 Abs 1 Nr 1 SGG, der §§ 141 Abs 1 Nr 1 SGG iVm § 44 Abs 1 SGB X sowie des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII. Über Zugunstenanträge dürfe in der Sache nicht unbegrenzt immer wieder neu entschieden werden, was auch der 4. und 9. Senat des BSG forderten. Vielmehr dürfe sich der Versicherungsträger ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung des ablehnenden Verwaltungsakts berufen, wenn der Versicherte bloße Subsumtionsrügen erhebe. Soweit das LSG den häuslichen Bereich des Klägers auf die Wohnung seiner Freundin erweitere, fehle dafür eine Rechtsgrundlage. Trete der Kläger den Weg zum Ort der Tätigkeit von einem sogenannten dritten Ort aus an, müsse dieser Weg in einem angemessenen Verhältnis zu dem unmittelbaren Weg zwischen der elterlichen Wohnung und der Arbeitsstätte stehen, was hier nicht der Fall sei.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Düsseldorf - S 16 U 192/13, 25.04.2017
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 10 U 448/17, 13.12.2017

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Terminbericht

Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg. Zu Recht hat das LSG das klageabweisende Urteil des SG und die Ablehnung der erneuten Sachprüfung in dem Bescheid vom 12.2.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.3.2013 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Entscheidung über das Nichtvorliegen eines Arbeitsunfalls in dem Beschluss des Rentenausschusses vom 12.10.2005 zurückzunehmen und den Unfall vom 9.9.2004 als Arbeitsunfall festzustellen. Die Rücknahmepflicht ergibt sich aus § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X. Der Beschluss des Rentenausschusses enthält nicht begünstigende Verwaltungsakte, mit denen zugleich die isolierte Feststellung eines Arbeitsunfalls und Sozialleistungen (Verletztengeld, Heilbehandlung) abgelehnt wurden, weshalb die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nicht gemäß § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X im Ermessen der Beklagten stand. Zwischenzeitlich in der Sache ergangene klageabweisende Urteile stehen trotz ihrer Rechtskraft einer erneuten Entscheidung gemäß § 44 SGB X nicht entgegen. Da der Kläger eine reine Rechtsprüfung begehrt, war nach der Rechtsprechung des Senats eine uneingeschränkte Prüfung der Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Ablehnungsentscheidung geboten.

Der Kläger hat am 9.9.2004 einen in der Wegeunfallversicherung versicherten Arbeitsunfall erlitten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherte Tätigkeit ist auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII). Der Kläger war als Beschäftigter gemäß § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versichert, und er erlitt auch einen Unfall iS des § 8 Abs 1 SGB VII. Ferner legte der Kläger im Unfallzeitpunkt den unmittelbaren Weg nach dem Ort der Tätigkeit objektiv zurück und seine Handlungstendenz war darauf auch subjektiv ausgerichtet. Nach den Feststellungen des LSG hatte der Kläger in der Wohnung seiner Freundin "übernachtet" und sich dort folglich länger als zwei Stunden aufgehalten, bevor er von diesem Ausgangspunkt aus aufbrach, um seine Arbeitsstätte in D. als Zielpunkt zu erreichen. Dabei verunglückte er auf dem direkten Weg zwischen diesen beiden Punkten. Diese konkrete, objektiv beobachtbare Verrichtung des "Sichfortbewegens" auf dem direkten Weg zum Ort der versicherten Tätigkeit führte der Kläger auch subjektiv zu diesem Zweck durch. Denn er war mit der Handlungstendenz unterwegs, den Ort der versicherten Tätigkeit zu erreichen. Maßgebend für die Beurteilung, ob eine konkrete Verrichtung der grundsätzlich versicherten Fortbewegung dient, ist die "objektivierte Handlungstendenz" des Versicherten, sodass das objektiv beobachtbare Handeln subjektiv - zumindest auch - auf die Erfüllung des Tatbestands der jeweils versicherten Tätigkeit ausgerichtet sein muss. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Als der Kläger die Autobahn am Unfalltag befuhr, diente diese Verrichtung allein der Fortbewegung auf der Strecke zum Ort der versicherten Tätigkeit, weil er die Wohnung seiner Freundin in M. um 7.10 Uhr verlassen hatte, um seine Arbeitsstätte in D. aufzusuchen und dort seine versicherte Tätigkeit als Auslieferungsfahrer aufzunehmen. Hatte die konkrete Verrichtung ihren Grund in der betrieblichen Handlungstendenz, dh wäre sie hypothetisch auch dann vorgenommen worden, wenn ein etwaiges eigenwirtschaftliches Interesse entfallen wäre, ist nicht zusätzlich - im Rahmen eines räumlichen Ansatzes - einschränkend zu fordern, dass der Weg zum Ort der Tätigkeit, den der Versicherte nicht von seinem Lebensmittelpunkt (im Sinne eines häuslichen Bereichs) aus angetreten hat, unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg zwischen dem häuslichen Bereich und dem Ort der Tätigkeit steht. Die Frage, ob der Weg von einem dritten Ort in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblicherweise zurückzulegenden Arbeitsweg stehen muss und ob an den Zweck des Aufenthalts an dem sogenannten dritten Ort inhaltliche Anforderungen zu stellen sind, hat der Senat bislang uneinheitlich beantwortet. Er stellt nunmehr zur Herstellung von Rechtsanwendungssicherheit ausdrücklich klar, dass es bei einem Unfall auf dem Weg von einem sogenannten dritten Ort weder auf einen mathematischen oder wertenden Angemessenheitsvergleich der Wegstrecken nach der Verkehrsanschauung noch - im Rahmen einer Gesamtschau - auf (etwaige betriebsdienliche) Motive für den Aufenthalt am dritten Ort, den erforderlichen Zeitaufwand zur Bewältigung der verschiedenen Wege und deren Beschaffenheit bzw Zustand, das benutzte Verkehrsmittel oder das erhöhte, verminderte bzw annähernd gleichwertige Unfallrisiko ankommt. Entgegen der Ansicht des LSG ist daher auch unerheblich, ob sich Weglänge und Fahrzeit noch im Rahmen der üblicherweise von Pendlern zurückgelegten Wegstrecke halten (oder darüber hinaus gehen).

Entscheidend ist vielmehr, ob der Weg vom dritten Ort zur Arbeitsstätte wesentlich von der subjektiven Handlungstendenz geprägt ist, den Ort der Tätigkeit aufzusuchen und dies in den realen Gegebenheiten objektiv eine Stütze findet, dh objektivierbar ist. Die Wegeunfallversicherung setzt in § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII lediglich voraus, dass der Weg in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht und lässt bei den Hinwegen nach dem Ort der Tätigkeit den jeweiligen Ausgangspunkt des versicherten unmittelbaren Weges ausdrücklich offen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass für Wege, die ihren Ausgangs- bzw Endpunkt im häuslichen Bereich des Versicherten haben, unfallversicherungsrechtlich keine Entfernungsgrenze gilt. Unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten lässt sich jedoch nicht rechtfertigen, dass Personen, die im selben Haus übernachtet haben und am nächsten Morgen denselben Arbeitsweg haben, nur dann versichert sind, wenn sie dort als Bewohner ihren (idealerweise melderechtlich dokumentierten) Lebensmittelpunkt haben und nicht lediglich Besucher waren. Erleiden Bewohner und Besucher in diesem Fall auf dem Weg zur Arbeit mit demselben Verkehrsmittel (außerhalb von Fahrgemeinschaften iS des § 8 Abs 2 Nr 2 Buchst b SGB VII) denselben Unfall und ziehen sie sich dabei Verletzungen zu, ist kein sachlicher Grund ersichtlich, den Besucher - anders als den Bewohner - von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung auszuschließen. Da der Versicherungsschutz für den Bewohner anerkanntermaßen nicht davon abhängt, ob sein häuslicher Bereich eine (wie auch immer geartete) räumliche Entfernung zum Ort der Tätigkeit unterschreitet, kann für den Besucher aus Gleichbehandlungsgründen nichts anderes gelten. Dabei ist zusätzlich zu bedenken, dass sich der Bewohner für seinen längeren Weg üblicherweise einem höheren Unfallrisiko aussetzt als der Besucher, der seine Wegstrecke nur ausnahmsweise, nämlich im Besuchsfall, erweitert.

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