Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 7/19 R

Verhandlungstermin 07.05.2020 11:00 Uhr

Terminvorschau

H. ./. Handelskrankenkasse
Die im Jahr 1993 geborene, bei der beklagten KK versicherte Klägerin (GdB 100; Merkzeichen G und H) leidet an einer globalen Entwicklungsverzögerung, Gleichgewichtsstörung, Hüftdysplasie links und an einem statomotorischen Entwicklungsdefizit. Im Jahr 2012 wurde ihr ein Therapiedreirad-Tandem ärztlich verordnet, weil andernfalls eine Gesundheitsverschlechterung zu befürchten sei. Die Beklagte lehnte die beantragte Versorgung ab, weil das Hilfsmittel dem Freizeitausgleich diene und zur Erschließung des Nahbereichs der Wohnung der Klägerin mit Blick auf ihre vorhandene Gehfähigkeit nicht erforderlich sei; ggf reiche dafür ein Schieberollstuhl aus.

Das dagegen angerufene SG hat die Beklagte unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide - nach zwischenzeitlicher Selbstbeschaffung des Spezialtherapierads - verurteilt, der Klägerin die von ihr aufgewandten Kosten von 7697 Euro zu erstatten. Es hat sich hierfür auf ein von ihm eingeholtes Sachverständigengutachten gestützt. Das Hilfsmittel sei danach zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung (§ 33 Abs 1 Satz 1 Var 2 SGB V) erforderlich; der Vorbeugung einer Behinderung diene ein Hilfsmittel auch, wenn sich eine bereits bestehende Behinderung zu verschlimmern drohe. Dem hat sich das LSG angeschlossen und die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 33 Abs 1 Satz 1 Var 2 SGB V. Das LSG habe die Rechtsprechung des BSG zum Anspruch auf Hilfsmittelversorgung unberücksichtigt gelassen. Dies gelte sowohl in Bezug auf Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung als auch zum mittelbaren Behinderungsausgleich (§ 33 Abs 1 Satz 1 Var 1 und 3 SGB V). Danach müsse ein von den KKn zu gewährendes Hilfsmittel für den Versicherten unentbehrlich und unvermeidlich sein und dürfe nur einen Basisausgleich der Behinderung bieten. Diese Begrenzungen müssten auch auf die - hier einschlägige - Hilfsmittelversorgung zum Zweck der Vorbeugung einer drohenden Behinderung übertragen werden. Hier komme Krankengymnastik als ausreichende Versorgung in Betracht.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Hannover - S 29 KR 10/13, 23.02.2017
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 4 KR 148/17, 23.04.2018

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 13/20.

Terminbericht

Die Revision der Beklagten war im Sinne der Aufhebung der Entscheidung des LSG und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet. Der Senat konnte nach den bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden, ob die Klägerin einen Kostenerstattungsanspruch für das selbstbeschaffte Spezialtherapierad hat. Als Rechtsgrundlage sieht § 13 Abs 3 Satz 1 Alternative 2 SGB V einen Kostenerstattungsanspruch vor, wenn die KK eine Sachleistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung notwendige Kosten entstanden sind. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen kommt hier ein Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit dem Spezialtherapierad als Hilfsmittel zur "Vorbeugung einer drohenden Behinderung" im Sinne der zweiten Variante von § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V nicht in Betracht. Ein Hilfsmittel ist erforderlich, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, wenn ein konkretes Behinderungsrisiko besteht. Bei einer - wie hier - bereits bestehenden Behinderung dient das Hilfsmittel (nur) zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung, wenn mit dessen Einsatz im Schwerpunkt die Verschlimmerung der vorhandenen Behinderung oder das Hinzutreten einer wertungsmäßig neuen Behinderung verhütet wird. Dazu dient das Hilfsmittel hier nach den Tatsachenfeststellungen des LSG nicht.

Indes kommt ein Anspruch nach der dritten Variante von § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V (= Versorgung mit dem Hilfsmittel zum Ausgleich einer bereits bestehenden Behinderung) in Betracht. Dem Behinderungsausgleich dient ein Hilfsmittel, wenn es seinem Zweck entsprechend die Auswirkungen der Behinderung beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung der allgemeinen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens dient. Das in der Rechtsprechung des Senats anerkannte Grundbedürfnis der zumutbaren Erschließung des Nahbereichs der Wohnung mit einem Hilfsmittel darf dabei nicht zu eng gefasst werden in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich zumutbar und in angemessener Weise erschließen. Dies folgt aus den Teilhabezielen des SGB IX und aus dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des Art 3 Abs 3 Satz 2 GG als Grundrecht und objektive Wertentscheidung iVm dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art 20 UN-Behindertenrechtskonvention. Der Senat sieht sich hierbei im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG zum Paradigmenwechsel, den Art 3 Abs 3 Satz 2 GG mit sich gebracht hat, und der Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen (zuletzt BVerfG <Kammer> vom 30.1.2020 - 2 BvR 1005/18). Der Anspruch auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich ist danach nicht von vornherein auf eine Minimalversorgung beschränkt. Vielmehr kommt ein Anspruch auf Versorgung bereits in Betracht, wenn das Hilfsmittel wesentlich dazu beitragen oder zumindest maßgebliche Erleichterung bringen würde, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung (zB bei Einkäufen oder Arzt- und Apothekenbesuchen) in zumutbarer Weise zu erschließen. Über das Vorliegen der Voraussetzungen dieses Anspruchs konnte der Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen nicht abschließend entscheiden. Es fehlen insbesondere Feststellungen dazu, auf welche Art und Weise sich die Klägerin den Nahbereich ihrer Wohnung tatsächlich mit und ohne Hilfe anderer erschließen konnte.

Hinzuweisen ist noch darauf, dass die Beklagte über den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auch unter dem Gesichtspunkt einer aufgedrängten Zuständigkeit nach § 14 SGB IX aF zu entscheiden hatte. Ob vorliegend ein Anspruch nach dem Eingliederungshilferecht (§§ 53 ff SGB XII aF) als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in Betracht kommt, ist bislang nicht geprüft worden.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 13/20.

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