Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 15/19 R

Verhandlungstermin 10.09.2020 12:00 Uhr

Terminvorschau

R. ./. AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen, beigeladen: 1. Stadt Delmenhorst, 2. Pflegekasse bei der AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen
Der 1999 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger leidet als Folge eines Morbus Down-Syndroms an einer ausgeprägten geistigen Behinderung mit Weglauftendenz bei Orientierungslosigkeit und Selbstgefährdung (GdB von 100, Merkzeichen H, B und G). Die zu 2. beigeladene Pflegekasse ordnete ihm den Pflegegrad 5 zu (bis 31.12.2016 Pflegestufe 3). Der Kläger lebt im Haus seiner Mutter, die auch zur Betreuerin bestellt wurde. Er besucht täglich bis mittags eine Tagesförderstätte, in der ihm eine 1:1-Betreuung zuteil wird, zudem wird er anderweit an Nachmittagen betreut. Der im Februar 2015 bei der Beklagten gestellte Antrag auf Kostenübernahme für eine GPS-gesteuerte Uhr "Guard 2me" blieb erfolglos: Es handele sich weder um ein Hilfsmittel iS der GKV noch um ein Pflegehilfsmittel iS des SGB XI, sondern um ein Überwachungssystem zur Positionsbestimmung. Zur Verhinderung des Gefahrenpotentials bei Menschen mit Weglauftendenz seien andere Maßnahmen angezeigt (zB Abschließen von Türen, ständige persönliche Begleitung außerhalb des häuslichen Bereichs).

Das SG hat die Klage abgewiesen, nachdem die zu 1. beigeladene Stadt als Trägerin der Eingliederungshilfe während des Klageverfahrens die Kostenübernahme für diese Uhr ebenfalls abgelehnt hatte. Das LSG hat die Entscheidungen der Beklagten und des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Kosten für die begehrte Uhr zu übernehmen. Es handele sich um ein den gesetzlichen Anforderungen entsprechendes Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich iS von § 33 Abs 1 Satz 1 Var 3 SGB V. Die Uhr sei auch kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, da sie speziell für Menschen mit Weglaufneigung und Orientierungsverlust konzipiert sei. Dieses Hilfsmittel diene dem Ausgleich und der Abmilderung der Folgen der geistigen Behinderung und eröffne Grundbedürfnisse des täglichen Lebens (eigenständige Mobilität, höhere Bewegungsfreiheit). Diesen Zwecken stehe die ständige Lokalisierbarkeit, die einer freiheitsentziehenden Maßnahme gleichkomme, nicht entgegen. Bislang sei der Bewegungsradius des Klägers auf verschlossene Räume in der Wohnung bzw im abgegrenzten Nahbereich der Wohnung beschränkt und ihm zeitweilig die Teilnahme an Ausflügen und gemeinschaftlichen Aktivitäten in der Tagesförderstätte verwehrt. Die Uhr sei auch kein in die Leistungszuständigkeit der Beigeladenen zu 2. fallendes Pflegehilfsmittel, da sie der Patientenüberwachung, nicht aber der Erleichterung der Pflege diene. Die Kostenübernahmepflicht der Beigeladenen zu 1. scheitere daran, dass die Uhr keine selbstständige Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bewirke.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe eine unzulässige Erweiterung des Behinderungsausgleichs iS von § 33 Abs 1 Satz 1 Var 3 SGB V vorgenommen. Folgen der geistigen Behinderung des Klägers seien primär die fehlende Einsichts- und Orientierungsfähigkeit und die Weglaufneigung. Die Uhr kompensiere nur mangelnde Betreuungsressourcen. Auch werde der Bereich der medizinischen Rehabilitation überschritten. Für Aufgaben der sozialen Rehabilitation sei die Beklagte nicht zuständig.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Oldenburg - S 63 KR 363/15, 18.04.2018
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 16 KR 182/18, 17.09.2019

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 32/20.

Terminbericht

Die Revision der beklagten Krankenkasse gegen das der Klage stattgebende LSG-Urteil ist erfolglos geblieben. Der Kläger hat gegen sie Anspruch auf Versorgung - ggf leihweise - mit der begehrten GPS-Uhr als Hilfsmittel zum Ausgleich seiner Behinderung (§ 33 Abs 1 Satz 1 Var 3 SGB V). Sie ist für ihn erforderlich und - da speziell für Menschen mit eingeschränkter Orientierungsfähigkeit konzipiert und ausgestattet - kein allgemeiner, handelsüblicher Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Das Hilfsmittel mindert seine Beeinträchtigungen in Bezug auf ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens, nämlich das Erschließen eines gewissen körperlichen Freiraums (s dazu bereits zB BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 3 KR 5/09 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 30 RdNr 12). Es erweitert seine faktisch eingeschränkte Bewegungsfreiheit und Mobilität und mindert die mit seiner Beeinträchtigung verbundene Teilhabestörung und beeinflusst sie günstig. Die so erzielte Wirkung entspricht dem zentralen Ziel des Rechts der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (vgl § 1 SGB IX). Der Senat hat bereits in der Vergangenheit entschieden, dass ein GPS-System für blinde oder erheblich sehbehinderte Menschen zur Orientierungshilfe im Einzelfall als Teilhabeleistung erforderlich sein kann (BSG Urteil vom 26.6.2009 - B 3 KR 4/08 R - SozR 4-2500 § 33 Nr 26). Dass die GPS-Uhr die Ortung und das Auffinden hilfloser Personen unterstützt, verringert die Beschränkung des Aufenthalts auf verschlossene Räume oder abgesperrte Bereiche, ohne dass dabei der Überwachungsgedanke in den Vordergrund tritt. Bedenken, dass die Einschränkungen primär durch fehlende Aufsichts- und Betreuungspersonen verursacht werden, greifen nicht durch, weil das Gerät nicht primär auf diese Personen bezogen ist, sondern dies nur einen als nachrangig einzustufenden Nebeneffekt darstellt. Auch für Epileptiker mit eintretenden Krampfanfällen werden zB Überwachungsgeräte eingesetzt, die nötigenfalls Betreuungs- und Hilfspersonen verständigen.

Der Senat sieht sich in seiner Auslegung des von der Beklagten auszugleichenden allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens bestätigt durch das Recht auf persönliche Mobilität nach Art 20 UN-Behindertenrechtskonvention sowie durch die Rechtsprechung des BVerfG zum Paradigmenwechsel, den das zu Gunsten von Menschen mit Behinderung geschaffene Benachteiligungsverbot des Art 3 Abs 3 Satz 2 GG mit sich gebracht hat. Der Behinderungsausgleich ist dabei nicht von vornherein auf eine "Minimalversorgung" beschränkt (vgl zuletzt Senatsurteil vom 7.5.2020 - B 3 KR 7/19 R - zur Veröffentlichung vorgesehen, unter Hinweis auf BVerfG vom 30.1.2020, 2 BvR 1005/18, NJW 2020, 1282).

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 32/20.

Hinweis zur Verwendung von Cookies

Wir verwenden ausschließlich Sitzungs-Cookies, die für die einwandfreie Funktion unserer Webseite erforderlich sind. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir diese Cookies einsetzen. Unsere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den Link Datenschutz.

OK