Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 P 2/19 R

Verhandlungstermin 10.09.2020 10:00 Uhr

Terminvorschau

In den Verfahren B 3 P 2/19 R, B 3 P 3/19 R und B 3 P 1/20 R streiten die Beteiligten über die für pflegebedürftige Personen geltend gemachte - von den Leistungsträgern sowie den Gerichten erster und zweiter Instanz abgelehnte - Gewährung eines Wohngruppenzuschlags aus der privaten bzw sozialen Pflegeversicherung (vgl § 38a SGB XI).

N. ./. Postbeamtenkrankenkasse
Der beihilfeberechtigte Kläger ist Ehemann und Betreuer seiner - ergänzend - über ihn privat pflegeversicherten Ehefrau. Die beklagte Postbeamtenkrankenkasse führt kraft einer Vereinbarung die private Pflegepflichtversicherung zugunsten der Ehefrau durch. Im Streit steht insoweit die vom Kläger geltend gemachte Gewährung eines Wohngruppenzuschlags zugunsten der Ehefrau für den nicht von der Beihilfe abgedeckten Pflegeleistungs-Teil (30 vH) .

Die Ehefrau, die an einer schweren Tetraparese und einem Locked-In-Syndrom nach Hirnstamminfarkt leidet, hat seit Juni 2014 Pflegegeld nach Pflegestufe II bzw nach Pflegegrad 4 erhalten, ferner häusliche Pflegehilfen und Betreuungsleistungen. Sie lebt seit September 2014 in einer ausschließlich von Schwerpflegebedürftigen genutzten Wohngemeinschaft (WG). Die Räumlichkeiten - hergerichtet von einer GmbH mit dem Gesellschaftszweck "Pflege und Rehabilitation" - bestehen aus sieben Einzel-Bewohnerzimmern, ferner aus mehreren Gemeinschaftsräumen mit Sanitäranlagen und Kochmöglichkeit.

Der Kläger schloss für seine Ehefrau mit der GmbH einen Betreuungsvertrag, einen Krankenbeobachtungsvertrag und einen Pflegevertrag sowie mit den Gesellschafterinnen der GmbH einen Mietvertrag für die Unterkunft. In verschiedenen Mitgliederversammlungen der WG beschlossen die Bewohner (vertreten durch ihre Betreuer) in wechselnder Zusammensetzung und bei teilweise nicht vollständiger Anwesenheit eine Gemeinschaftsordnung. Zudem beauftragten die Bewohner externe Personen mit Einzelaufgaben bzw individuellen Versorgungsaufträgen (zB zum Führen der Bar-Kasse), ua eine Sozialarbeiterin, die sie zur Sprecherin der Gemeinschaft wählten.

Im September 2015 beantragte der Kläger bei der Beklagten für seine Ehefrau hinsichtlich des privatversicherungsrechtlich abgesicherten Teils die Gewährung des Wohngruppenzuschlags nach den Vertragsklauseln für die private Pflegepflichtversicherung (AVB MB/PVV), die insoweit weitgehend den Regelungen für die soziale Pflegeversicherung in § 38a Abs 1 SGB XI entsprechen. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, da die GmbH hier vollstationäre, nicht aber ambulante Pflegeleistungen anbiete.

Im Jahr 2016 verpflichtete sich jeder Bewohner der WG, einen Versorgungsvertrag mit der GmbH über Leistungen für einen Wohngruppenzuschlag abzuschließen sowie entsprechende Leistungen bei der Pflegekasse zu beantragen. Zudem schlossen die GmbH und die beauftragte Sozialarbeiterin einen Versorgungsvertrag, der die organisatorischen, verwaltenden und unterstützenden Tätigkeiten des Pflegedienstes für die Gemeinschaft regelt.

Das SG hat die Klage abgewiesen, ua weil nicht erkennbar sei, dass die Gemeinschaft als solche eine konkrete (natürliche) Person mit Hilfeleistungen beauftragt habe. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen: Zwar liege eine ambulante Wohngruppe iS der versicherungsvertraglichen Bestimmungen vor, allerdings habe diese keine Person gemeinschaftlich beauftragt, die - wie erforderlich - unabhängig von der individuellen pflegerischen Versorgung allgemeine organisatorische, verwaltende, betreuende oder das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten verrichten oder hauswirtschaftliche Unterstützung leisten solle. Zwar könne auch eine Beauftragung der GmbH die Voraussetzungen für einen Wohngruppenzuschlag erfüllen, wenn diese zur Erfüllung der Aufgaben eine natürliche Person benenne. Es fehle hier aber an einer "gemeinschaftlichen" Beauftragung der Mitglieder der Wohngruppe; denn aus den unterschiedlichen Verträgen und Protokollen der Mitgliederversammlungen sei kein entsprechender einheitlicher Willensbildungsprozess ersichtlich.

Mit seiner Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen § 38a Abs 1 Nr 3 SGB XI bzw § 4 Abs 7a Nr 3 AVB MB/PPV. Entgegen der Auffassung des LSG liege die "gemeinschaftliche Beauftragung einer sog Präsenzkraft durch die Wohngruppe" vor. Das LSG lege die maßgebenden leistungsrechtlichen Tatbestandsmerkmale zu eng aus und schränke so die Wahl- und Handlungsfreiheit der Wohngruppe bzw ihrer Bewohner rechtswidrig ein. Aus dem Begriff "gemeinschaftliche Beauftragung" folge nicht, dass die Beauftragung "einstimmig" sein müsse. Vielmehr sei eine "mehrheitliche", aber gleichwohl "einheitliche" Beauftragung möglich und ausreichend.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Köln - S 9 P 126/17, 15.08.2018
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 5 P 63/18, 06.06.2019

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Terminbericht

Die Revisionen sind in allen drei Verfahren im Sinne der Aufhebung der Entscheidungen des LSG und Zurückverweisung an das jeweilige Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Anspruch auf einen Wohngruppenzuschlag nach § 38a SGB XI (in den jeweils ab 1.1.2015 geltenden Fassungen bzw nach der weitgehend identischen versicherungsvertraglichen Klausel in § 4 Abs 7a AVB MB/PPV) kann in allen Verfahren mit den von den Vorinstanzen gegebenen Begründungen nicht rechtsfehlerfrei verneint werden.

Der Senat hat bei seiner Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 38a SGB XI vor allem das gesetzliche Ziel berücksichtigt, ambulante Wohnformen - auch finanziell - zu fördern und weiterzuentwickeln (vgl Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zum 5. SGB XI-ÄndG <= Erstes Pflegestärkungsgesetz, PSG I>, BT-Drucks 18/2909, S 41 zu Nummer 8), sowie dem Grundsatz der Selbstbestimmung pflegebedürftiger Menschen (§ 2 SGB XI) Ausdruck verliehen. Vor diesem Hintergrund dürfen die Maßstäbe für die in den jeweiligen Revisionsverfahren streitigen Anspruchsvoraussetzungen, die individuelle ambulante Versorgungsformen für diesen Personenkreis zu ermöglichen, nicht eng ausgelegt werden. Die Förderung bestimmter Wohnformen mittels eines Wohngruppenzuschlags ist allerdings ausgeschlossen, wenn das Wohnen lediglich bei rein "formaler" Betrachtung der ambulanten Versorgung zuzuordnen wäre, faktisch aber einer stationären Vollversorgung entspräche, oder wenn die Versorgung nicht über die Leistungen der reinen häuslichen Pflege hinausginge.

a) Eine "gemeinsame Wohnung" iS von § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB XI liegt danach erst dann nicht mehr vor, wenn die gesamte Wohnanlage so gestaltet ist, dass nicht mehr auf die Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Zusammenwohnens zurückgegriffen werden kann.

b) Dem Anspruch auf Wohngruppenzuschlag steht vor diesem Hintergrund auch nicht entgegen, dass mehr als eine Person Tätigkeiten iSd § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB XI für die Wohngruppe verrichten soll (vgl bereits Senatsurteil vom 18.2.2016 - B 3 P 5/14 R, BSGE 120, 271 = SozR 4-3300 § 38a Nr 1, RdNr 23). Vielmehr lässt die Norm die Beauftragung mehrerer natürlicher und/oder juristischer Personen in Kombination wie auch in einem gestuften Auftragsverhältnis zu. Der lediglich in den Gesetzgebungsmaterialien verwendete Begriff "Präsenzkraft" spricht nicht gegen die rechtlich zulässige Beauftragung juristischer Personen. Die Möglichkeit juristischer Personen, konkret (und nicht nur pauschal) benannte natürliche Personen in die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben einzubinden, ist gleichermaßen geeignet, eine regelmäßige persönliche Präsenz sicherzustellen.

c) Das gesetzliche Erfordernis einer "gemeinschaftlichen" Beauftragung zur Verrichtung der in § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB XI genannten Aufgaben stellt keine qualifizierten Anforderungen an die Form oder das Zustandekommen des gemeinschaftlichen Willensbildungsprozesses. Die nach den Gesetzesmaterialien gewollte zu fördernde individuelle Vielfalt bestimmter Wohngemeinschaften von pflegebedürftigen Menschen verbietet enge Vorgaben für das Zustandekommen der Beauftragung. Aus der typischerweise wechselnden personellen Zusammensetzung dieser Gemeinschaften, dh einer damit verbundenen gewissen Fluktuation, ergeben sich zudem praktische Bedürfnisse, die Beauftragung sowohl durch separat abgeschlossene Vereinbarungen als auch durch deren nachträgliche Genehmigung durch neu eintretende Personen zu ermöglichen. Dafür reicht es aus, wenn einschließlich der die Leistung begehrenden pflegebedürftigen Person mindestens zwei weitere pflegebedürftige Mitglieder der Wohngemeinschaft an der gemeinschaftlichen Beauftragung mitwirken und - im Falle eines Wechsels oder des Ausscheidens von Mitgliedern - die verbliebenen und neuen die Beauftragung aufrechterhalten. Dies kann zur Folge haben, dass durchaus mehrere Beauftragungen nebeneinander innerhalb der Wohngemeinschaft möglich sind.

d) Zentrale Voraussetzung für die Gewährung eines Wohngruppenzuschlags ist zudem die Festlegung der konkreten Aufgaben im Sinne der Alternativen des § 38a SGB XI. Dies ist nötig, um sicherzustellen, dass sich die zu erledigenden Aufgaben der beauftragten Person deutlich von der individuell benötigten pflegerischen Versorgung unterscheiden (vgl bereits Senatsurteil vom 18.2.2016, aaO, RdNr 29). Auch darf keine solche personelle/vertragliche Symbiose der zusätzlichen Versorgung mit pflegerischen Leistungen bestehen, die die Abgrenzung zur stationären Vollversorgung nicht mehr gewährleisten würde.

e) § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 4 iVm Nr 1 SGB XI schließt einen Anspruch auf Wohngruppenzuschlag aus, wenn eine stationäre oder quasi-stationäre Versorgungsform vorliegt. Als zentrales Abgrenzungsmerkmal zur ambulanten Versorgung kommt es dabei nicht auf heimrechtliche, sondern auf leistungsrechtliche Kriterien an. Nach den Materialien zum PSG I soll es für die Bejahung der ambulanten Versorgung darauf ankommen, dass regelhaft Beiträge der Bewohner selbst, ihres persönlichen sozialen Umfelds oder von bürgerschaftlich Tätigen zur Versorgung notwendig bleiben (vgl Ausschussbericht, aaO, BT-Drucks 18/2909 S 42). Eine ambulante Versorgungsform liegt folglich vor, wenn keine vollständige Übertragung der Verantwortung ohne freie Wählbarkeit der Pflege- und Betreuungsleistungen erfolgt, sondern wenn die Versorgung auf die Übernahme von Aufgaben durch Dritte angelegt ist, unabhängig davon, ob auch tatsächlich davon in bestimmter Weise Gebrauch gemacht wird.

f) Gemessen an alledem darf im Revisionsverfahren B 3 P 2/19 R ein Wohngruppenzuschlag für die Ehefrau des Klägers weder aufgrund der Art und Weise der Beauftragung der Personen noch aufgrund des Leistungsumfangs der Versorgungsform verneint werden.

Auch in der Sache zum Aktenzeichen B 3 P 3/19 R scheitert ein Anspruch jedenfalls nicht daran, dass es zur Beauftragung mehrerer Personen kam, und dass es sich hierbei auch um eine juristische Person handelt.

In der Revisionssache B 3 P 1/20 R durfte entgegen der Ansicht der Vorinstanzen die Gewährung eines Wohngruppenzuschlags nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass es sich bei der Wohnform des Klägers um keine "gemeinsame Wohnung" handele.

g) Ob die beklagten Leistungsträger im jeweiligen Rechtsstreit zur Zahlung der Wohngruppenzuschläge zu verurteilen sind, kann der erkennende Senat in allen drei Fällen allerdings nicht selbst abschließend entscheiden. Hierzu sind in den wieder eröffneten Berufungsverfahren Feststellungen auch zu allen weiteren Anspruchsvoraussetzungen des § 38a SGB XI nötig und nachzuholen, die die Tatsacheninstanzen - von ihrem Rechtsstandpunkt aus konsequent - bisher unterlassen haben.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 32/20.

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