Bundessozialgericht

Verhandlung B 6 KA 2/20 R

Vertragsarztrecht - Sonderbedarfszulassung - vertragsärztliche Versorgung - Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie - zumutbarer Weg - Patient - anliegender Planungsbereich - anliegende Raumordnungsregion

Verhandlungstermin 17.03.2021 10:00 Uhr

Terminvorschau

A. GmbH ./. Berufungsausschuss für Ärzte bei der KÄV Hessen, 7 Beigeladene
Die klagende GmbH, Trägerin eines MVZ im Planungsbereich Nordhessen, beantragte erfolglos, die Anstellungsgenehmigung des dort angestellten Facharztes für Innere Medizin mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie Dr. B. wegen Sonderbedarfs von 20 auf 40 Wochenstunden zu erhöhen. Der beklagte Berufungsausschuss führte zur Begründung aus, die Versorgung im hämatologisch-onkologischen Bereich sei durch die bestehenden Versorgungsangebote in der Raumordnungsregion Nordhessen sowie in den angrenzenden Planungsbereichen sichergestellt. Eine bei zwölf Ärzten im Umkreis des MVZ durchgeführte Umfrage habe ergeben, dass mehrere Ärzte noch über freie Kapazitäten von bis zu 200 Patienten pro Quartal verfügten bzw in der Lage seien, ihre Leistungen um 20 % zu steigern. Da das gesamte Abrechnungsvolumen der in dem Planungsbereich niedergelassenen Hämatologen/Onkologen bei Herausrechnung des Leistungsvolumens der Klägerin bei 97,06 % des Landesdurchschnitts liege, seien freie Kapazitäten im Bereich Hämatologie und Onkologie vorhanden. Die Tatsache, dass die Klägerin selbst überdurchschnittlich abrechne, zeige lediglich, dass die Patienten ungleich verteilt seien.

Das SG hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen: Zutreffend habe der Beklagte einen Sonderbedarf verneint. Grundsätzlich könnten im Rahmen der spezialisierten ärztlichen Versorgung den Patienten auch Wege über 25 km zugemutet werden. Zudem könne die Versorgung durch Ärzte in anliegenden Planungsbereichen bzw Raumordnungsregionen berücksichtigt werden. Dies folge insbesondere aus der Neudefinition der Planungsbereiche, mit der die Bindung an die Stadt- und Landkreise aufgegeben worden sei. Es sei daher nicht zu beanstanden, dass der Beklagte die Versorgung durch Praxen in einer Entfernung von 33 km zum Standort der Klägerin bzw in den angrenzenden Planungsbereichen in die Beurteilung der vorhandenen Versorgungskapazitäten einbezogen habe.

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision, die ihren Antrag auf Erteilung einer weitergehenden Anstellungsgenehmigung ablehnende Entscheidung sei nicht auf ausreichend fundierte Ermittlungen gegründet worden. Insbesondere habe es der Beklagte versäumt, die Angaben der befragten Ärzte anhand ihres Abrechnungsvolumens zu verifizieren und zu objektivieren. Datenschutzgründe stünden dem nicht entgegen. Die Übermittlung der Behandlungsfallzahlen einer Praxis durch die KÄV zur Prüfung eines Sonderbedarfs sei rechtlich zulässig. Die Fallzahlen des MVZ bewiesen, dass der Behandlungsbedarf am Standort des MVZ nicht mit einer hälftigen Anstellungsgenehmigung gedeckt werden könne. Die Klägerin ist ferner der Auffassung, ein Sonderbedarf sei - unabhängig von der Erreichbarkeit anderer Versorgungsangebote - zu bejahen, wenn die Versicherten einen realen Bedarf nach einer wohnortnahen Versorgung hätten und dieser Bedarf eine (weitergehende) Zulassung oder Anstellungsgenehmigung unerlässlich mache, ohne dass die wirtschaftliche Grundlage einer anderen Praxis tangiert werde. Jedenfalls sei das SG zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Leistungen eines Hämatologen/Onkologen als spezialisierte Leistungen anzusehen seien, für die längere Wege zumutbar seien. Aufgrund der hohen Behandlungsfrequenz und des Zustandes der Patienten müssten diese Leistungen wohnortnah erbracht werden. Versorgungsangebote in angrenzenden Planungsbereichen könnten nicht berücksichtigt werden.

Vorinstanz:
Sozialgericht Marburg - S 12 KA 230/18, 15.01.2020

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 10/21.

Terminbericht

Die Revision der klagenden MVZ-Betreibergesellschaft hatte Erfolg; der beklagte Berufungsausschuss muss neu über den Antrag der Klägerin entscheiden, den Beschäftigungsumfang des im MVZ angestellten Hämatologen/Onkologen wegen eines Sonderbedarfs von 20 auf 40 Stunden zu erhöhen. Am Standort des MVZ besteht ein Bedarf für hämatologische und onkologische Leistungen, den das MVZ mit einem hälftigen Versorgungsauftrag nicht abdecken kann. Damit sind die Voraussetzungen eines Sonderbedarfs erfüllt, wenn nicht andere hämatologisch tätige Praxen über freie Behandlungskapazitäten verfügen und diese Praxen für die Versicherten zumutbar erreichbar sind. Für Letzteres ist im ländlichen Raum auf die Zeit abzustellen, die man mit dem PKW benötigt. Nach den Feststellungen des SG sind die in Frage kommenden Praxen vom Standort des MVZ aus in 20, 33 und 37 Minuten erreichbar. Längere Zeiten als 45 Minuten werden nur zwischen zwei Kleinstädten im Umfeld des Standortes des MVZ und jeweils einer der anderen Praxen mit 47 bzw 48 Minuten benötigt. Aus jedem Ort des engeren Einzugsbereichs der Praxis der Klägerin ist eine andere hämatologische Praxis in weniger als 45 Minuten erreichbar. Das ist nach der Regelungsintention des Gesetzgebers bei der Neuausrichtung der Bedarfsplanung zumutbar. Der Senat hält daran fest, dass für die hausärztliche Versorgung und für die allgemeine fachärztliche Versorgung, bei der der Landkreis weiterhin Planungsbereich ist, Wege von mehr als 25 km in aller Regel nicht zumutbar sind. Für die spezialisierte fachärztliche Versorgung kann das so nicht gelten, da anderenfalls die Entscheidung, dass insoweit die Raumordnungsregion und nicht der Kreis die maßgebliche Planungseinheit ist, leerlaufen würde. Für die Einbeziehung von Praxen aus anderen Planungsbereichen gelten hinsichtlich der zumutbaren Entfernung keine abweichenden Grundsätze. Es gibt keinen bundesrechtlichen Grundsatz, der es von vornherein ausschließen würde, Praxen aus einer anderen Raumordnungsregion in die Prüfung einer Bedarfsdeckung einzubeziehen. Allerdings darf das System einer auf Planungsbereiche abstellenden Planung nicht unterlaufen werden. Bevor die Zulassungsgremien solche Praxen im Rahmen der Bedarfsdeckung berücksichtigen, müssen sie genau prüfen, ob diese Praxen nicht den Bedarf in ihrer eigenen Region abdecken und eventuell dort vorhandene Kapazitäten schon zur (fiktiven) Bedarfsdeckung in Verfahren von zulassungswilligen Ärzten aus dieser Region herangezogen worden sind.

Dass an den vom Standort des MVZ und Umgebung aus zumutbar erreichbaren Praxisstandorten in hinreichendem Umfang freie Kapazitäten bestehen, steht - entgegen der Auffassung des SG und des Beklagten - nicht mit der notwendigen Gewissheit fest. Insofern wird der Beklagte weitere Ermittlungen durchführen müssen. Grundsätzlich müssen Angaben von Praxen über freie Kapazitäten mit der Information darüber verbunden werden, wie hoch die reale Fallzahl der Praxis aktuell ist und wie sich das zum Durchschnitt verhält. Diese Fallzahlen dürfen die Zulassungsgremien auch ohne Einverständnis der Praxen über die KÄV ermitteln. Diese Angaben sind dann erforderlich im Sinne der datenschutzrechtlichen Vorschriften, wenn nach Auswertung aller anderen Umstände ein Sonderbedarf weder offensichtlich vorliegt noch offensichtlich ausscheidet. Wenn ohne die Kenntnis dieser Zahlen eine fundierte Entscheidung über den Sonderbedarf nicht möglich ist, hat das Interesse daran Vorrang vor dem Geheimhaltungsinteresse der betroffenen Praxen. Dabei sind die Daten soweit wie möglich zu anonymisieren; bei kleinen Facharztgruppen wie vorliegend ist aber hinzunehmen, dass einzelne Praxen dennoch identifizierbar sind. Lässt sich nicht klären, ob andere Praxen den Bedarf decken können, kann ein Sonderbedarf nicht verneint werden.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 10/21.

Hinweis zur Verwendung von Cookies

Wir verwenden ausschließlich Sitzungs-Cookies, die für die einwandfreie Funktion unserer Webseite erforderlich sind. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir diese Cookies einsetzen. Unsere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den Link Datenschutz.

OK