Bundessozialgericht

Verhandlung B 6 KA 15/20 R

Vertragsarztrecht - Entlastungsassistent - Kindererziehung - Alter des Kindes

Verhandlungstermin 14.07.2021 11:30 Uhr

Terminvorschau

A. W. ./. Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen
Die Beteiligten streiten im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Genehmigung einer Entlastungsassistentin wegen Kindererziehung hat.

Die Klägerin ist seit 1999 als Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Ihren Antrag, ihr wegen der Erziehung ihres 1999 geborenen Adoptivsohnes die Beschäftigung einer Entlastungsassistentin zu genehmigen, lehnte die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) mit der Begründung ab, dass ihr Sohn bereits das 14. Lebensjahr vollendet habe (Bescheid vom 31.8.2015, Widerspruchsbescheid vom 11.12.2015). Dagegen genehmigte sie ihr eine Entlastungsassistentin wegen der Erziehung ihres 2005 geborenen Adoptivsohnes im Umfang von 20 Wochenstunden (1.10.2015 bis 30.9.2017; 1.4.2018 bis 31.3.2019, insgesamt 36 Monate). Der Antrag der Klägerin, ihr ab dem 1.7.2019 erneut eine Genehmigung für die Beschäftigung eines Entlastungsassistenten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des jüngeren Sohnes zu erteilen ist erfolglos geblieben. Die beklagte KÄV berief sich darauf, dass nunmehr auch der zweite Sohn der Klägerin das 14. Lebensjahr vollendet habe (Klage anhängig beim SG).

Auf die Fortsetzungsfeststellungsklage der Klägerin hat das SG festgestellt, dass der Bescheid der Beklagten vom 31.8.2015 rechtswidrig gewesen ist. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Ein berechtigtes Interesse der Klägerin an der Feststellung bestehe unter dem Aspekt der Wiederholungsgefahr. Die Gefahr, dass die Beklagte auch weiterhin die Genehmigung von Assistentinnen wegen einer ihrer Ansicht nach gegebenen Altersbegrenzung ablehnen würde, habe sich bereits realisiert. Die Beklagte hätte der Klägerin die beantragte Genehmigung erteilen müssen, auch wenn ihr älterer Sohn im Zeitpunkt der Antragstellung bereits 15 Jahre alt gewesen sei. § 32 Abs 2 Satz 2 Nr 2 der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) enthalte keine ausdrückliche Altersbegrenzung, diese ergebe sich auch nicht aus der Wortlautbedeutung des Begriffs "Kind". Soweit die Regelung auf die "Erziehung von Kindern" abstelle, fiele hierunter ausgehend von den Regelungen des BGB zur Personensorge der Eltern für ihr minderjähriges Kind der gesamte Zeitraum bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes. Sinn und Zweck der Vorschrift sei die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ein Rückgriff auf die Altersgrenzen des Jugendschutzgesetzes oder der Kinder- und Jugendhilfe des SGB VIII, welche dem Schutz von Kindern und Jugendlichen und damit anderen Zwecken dienten, verbiete sich daher. Ebenso wenig könne § 15 Abs 2 Satz 2 BEEG herangezogen werden, der das Höchstalter von Kindern, für deren Betreuung und Erziehung Elternzeit beansprucht werden kann, auf acht Jahre festsetze. Dieser gelte nur für Arbeitnehmer und diene dem Ausgleich der Interessen von Beschäftigten und Arbeitgebern. Dem Grundsatz, dass eine Assistenz nur zur Behebung eines vorübergehenden Entlastungsbedarfs möglich sei, werde bereits durch die Begrenzung auf einen Zeitraum von 36 Monaten Rechnung getragen, mit dem pauschal die Erziehung auch mehrerer Kinder abgegolten werde. Assistenzzeiten von 36 Monaten pro Kind wären dagegen mit dem Grundsatz der persönlichen Leistungserbringung nicht zu vereinbaren. Besonderen familiären Belastungssituationen könne in anderer Weise Rechnung getragen werden, etwa durch ein Jobsharing, das (teilweise) Ruhen der Zulassung oder eine Beschränkung des Versorgungsauftrages.

Mit ihrer Revision macht die Beklagte eine Verletzung des § 32 Abs 2 Satz 2 Nr 2 Ärzte-ZV geltend. Der Gesetzgeber habe mit dieser Ausnahme von der vertragsärztlichen Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung eine bessere Vereinbarkeit von freiberuflicher Tätigkeit als Vertragsarzt und Familie und damit jedenfalls Kinder, die noch der Betreuung bedürften, und nicht Jugendliche im Blick gehabt. Aus dem Jugendschutzgesetz und § 7 Abs 1 Nr 1 SGB VIII folge ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, wonach typischerweise zwischen dem noch nicht 14 Jahre alten "Kind" und einem "Jugendlichen" unterschieden werde.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Hannover - S 20 KA 6/16, 26.02.2020
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 3 KA 31/20, 28.10.2020

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Terminbericht

Die Revision der beklagten KÄV hat keinen Erfolg. Das Urteil des LSG steht nicht in vollem Umfang mit Bundesrecht in Einklang, erweist sich im Ergebnis aber als richtig.

Der Senat folgt dem LSG zunächst dahin, dass das Merkmal "Erziehung von Kindern" im Sinne des § 32 Abs 2 Satz 2 Nr 2 Ärzte-ZV so zu verstehen ist, dass "Kind" in diesem Sinne jeder Mensch bis zur Volljährigkeit sein kann. Der Beklagten ist zuzugeben, dass nach der Zielsetzung des § 32 Abs 2 Satz 2 Nr 2 Ärzte-ZV die Belastungen ausgeglichen werden sollen, die mit der Betreuung von Kindern gerade in deren ersten Lebensjahren verbunden sind. Eine Eingrenzung der Genehmigung einer Entlastungsassistenz auf die Zeit bis zur Vollendung des 8. Lebensjahres des Kindes - wie im BEEG geregelt - oder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres - wie es die Beklagte im Anschluss an die generelle Abgrenzung von Kindern und Jugendlichen für richtig hält - ist in § 32 Ärzte-ZV jedoch nicht enthalten und kann ihr auch nicht im Wege der Auslegung entnommen werden. Es ist Sache des Normgebers, die Regelung einzuschränken, wenn er den Rahmen mit dem Eintritt der Volljährigkeit für zu weit gezogen hält.

Nicht zu folgen vermag der Senat dem LSG allerdings dahin, dass die Zeit von 36 Monaten, für die eine Entlassungsassistenz genehmigt werden kann, unabhängig von der Zahl der Kinder zu verstehen ist. Auch eine als zu lang empfundene Zeitspanne (Vollendung des 18. Lebensjahres) kann aus systematischen Gründen nicht auf diese Weise in ihren Auswirkungen begrenzt werden. Einem Vertragsarzt muss die Möglichkeit des Einsatzes einer Entlastungsassistenz für jedes Kind zur Verfügung stehen; es wäre nicht vertretbar, einen Vertragsarzt, der 24 Monate für das erste Kind in Anspruch genommen hat, nach der - möglicherweise in größerem zeitlichen Abstand erfolgten - Geburt des zweiten und eventuell dritten Kindes darauf zu verweisen, nur noch insgesamt 12 Monate beanspruchen zu können. Der Grundsatz, dass die Dauer von 36 Monaten pro Kind zu verstehen ist, erfährt nur dadurch eine Einschränkung, dass Zeiten der Assistenz, in denen mehrere Kinder gleichzeitig erzogen werden, nicht fiktiv allein einem Kind zugeordnet werden können: Wird das zweite Kind geboren, bevor 36 Monate für das erste Kind in Anspruch genommen wurden, stehen dem Elternteil danach noch einmal 36 Monate für das zweite Kind zu, nicht aber 36 Monate zuzüglich der "unverbrauchten" Monate für das erste Kind. Denn in § 32 Abs 2 Satz 2 Nr 2 ist von "Kindern" die Rede, sodass für die parallele Erziehung von zwei oder mehr Kindern der Genehmigungsanspruch nur einmal besteht.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 28/21.

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