Bundessozialgericht

Verhandlung B 1 KR 29/20 R

Krankenversicherung - Querschnittslähmung - Behandlung im Ausland - Kostenübernahme

Verhandlungstermin 16.08.2021 12:30 Uhr

Terminvorschau

L. S. ./. DAK-Gesundheit
Die 1991 geborene Klägerin begehrt von der beklagten Krankenkasse Erstattung der Kosten in Höhe von 106 845 Euro, die sie für ihre Teilnahme am Trainingsprogramm "Project Walk" in Carlsbad, Kalifornien (USA) vom 27.2.2014 bis 31.5.2015 aufgewendet hat.

Die Klägerin zog sich 2006 bei einem Reitunfall einen Trümmerbruch des 4. und 5. Halswirbelkörpers zu und ist seither querschnittsgelähmt. Neben Behandlungen in Deutschland nahm sie mit dem Ziel der Verbesserung ihres körperlichen Zustands mehrmals an Maßnahmen in den USA teil, so etwa in dem hier verfahrensgegenständlichen "Project Walk". Das dort absolvierte Trainingsprogramm verfolgt den Ansatz, das Gehen unter Nutzung der natürlichen Muskelkontraktion durch eine Kombination aus intensivem körperlichen Training und Elektrostimulation wieder zu erlernen. Nach einem Probeaufenthalt Ende 2013 reiste die Klägerin am 27.2.2014 wieder in die USA ein, beantragte am 12.3.2014 Kostenübernahme für einen weiteren Aufenthalt in den USA und legte eine Kostenaufstellung für die Monate März bis Oktober 2014 vor (monatlich 5201,09 Euro Therapiekosten, 1750 Euro Wohnungskosten, 2000 Euro Unterstützung, 1000 Euro Kfz-Kosten und Reisekosten). Die Beklagte erklärte sich mit im Rahmen einer Einzelfallentscheidung zu einer Kostenbeteiligung iHv monatlich 800 Euro für die Zeit von März bis Oktober 2014 bereit und wies den hiergegen erhobenen Widerspruch zurück (Bescheid vom 14.4.2014, Widerspruchsbescheid vom 29.8.2014). Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das LSG hat ausgeführt, der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch lasse sich nicht auf § 13 Abs 3a Satz 6 SGB V stützen, da es sich bei der in Anspruch genommenen Maßnahme um eine medizinische Rehabilitation handele, auf die die Vorschrift nicht anwendbar sei. Zudem sei die Klägerin auf die Durchführung der Behandlung im Ausland von Anfang an festgelegt gewesen und habe die Leistung mangels Beifügung einer ärztlichen Verordnung nicht genehmigungsfähig beantragt. Ein Anspruch lasse sich auch nicht aus § 18 Abs 1 und 2 SGB V ableiten. Es spreche bereits viel dafür, dass kein Kausalzusammenhang zwischen dem ablehnenden Bescheid und den danach in Anspruch genommenen Behandlungen in den USA bestanden habe. Dies könne letztlich jedoch offenbleiben, da die Behandlung nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche. Auch die Voraussetzungen einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts seien nicht erfüllt. Denn es liege bereits keine lebensbedrohliche oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vor. Hierfür sei eine notstandsähnliche Situation mit akuter Lebensgefahr oder dem drohenden Verlust einer wichtigen Körperfunktion erforderlich. Hier drohe der Verlust der Geh- und Bewegungsfähigkeit der Versicherten aber nicht mehr, sondern sei bereits eingetreten. Mit der beantragten Behandlung sollte die Querschnittslähmung nicht verhindert, sondern gebessert oder sogar geheilt werden. Dessen ungeachtet stehe im Fall der Versicherten eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung. Schließlich sei auch der Arztvorbehalt nach § 15 Abs 1 Satz 2 SGB V nicht eingehalten, da nicht erkennbar sei, dass die Behandlung in den USA in irgendeiner Form unter ärztlicher Verantwortung gestanden habe.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung der §§ 12 und 18 SGB V sowie die Grundsätze der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts.

Vorinstanzen:
Sozialgericht München - S 29 KR 1177/14, 12.10.2016
Bayerisches Landessozialgericht - L 4 KR 585/16, 22.11.2018

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 33/21.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg. Das LSG hat ihre Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch auf Erstattung der Kosten für ihre Teilnahme an dem Trainingsprogramm "Project Walk" nicht zu.

Die Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs 3a SGB V sind nicht erfüllt. Die Klägerin war nach den bindenden Feststellungen des LSG schon vor Ablauf der Entscheidungsfrist auf die Selbstbeschaffung der beantragten Leistung vorfestgelegt (vgl dazu bereits BSG vom 27.10.2020 - B 1 KR 3/20 R; BSG vom 25.3.2021 - B 1 KR 22/20 R).

Der Anspruch ergibt sich auch nicht aus § 18 Abs 1 Satz 1 SGB V. Das LSG hat ohne Rechtsfehler festgestellt, dass die von der Klägerin in den USA im "Project Walk" in Anspruch genommene Behandlung jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt nicht dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft entsprach. Die Voraussetzungen des § 2 Abs 1a SGB V bzw einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts der GKV lagen ebenfalls nicht vor. Die Klägerin leidet nicht an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. Die bei ihr vorliegende Querschnittslähmung in Form einer inkompletten Tetraparese ist mit einer solchen Erkrankung auch nicht wertungsmäßig vergleichbar. Die wertungsmäßige Vergleichbarkeit einer Erkrankung mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung erfordert eine notstandsähnliche Extremsituation, wie sie auch für eine nahe Lebensgefahr typisch ist. Kennzeichnend dafür ist neben der Schwere der Erkrankung ein erheblicher Zeitdruck für einen bestehenden akuten Behandlungsbedarf. Dies ergibt sich aus der bisherigen Rspr des BVerfG und des Senats zur verfassungsrechtlichen Modifikation des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung und aus den Gesetzesmaterialien zu § 2 Abs 1a SGB V. An der erforderlichen individuellen Notlage fehlte es vorliegend. Die Verletzungsfolgen in Form der Querschnittslähmung waren bei der Klägerin bereits acht Jahre vor Beginn der streitigen Therapie eingetreten. Dass eine weitere erhebliche Verschlimmerung drohte oder für die Therapie lediglich ein enges therapeutisches Zeitfenster bestand, hat das LSG nicht festgestellt und ist auch nicht ersichtlich. Der Kostenerstattungsanspruch scheitert zudem auch an der fehlenden Einhaltung des Arztvorbehalts nach § 15 SGB V. Dieser ist auch im Anwendungsbereich des § 2 Abs 1a SGB V und im Rahmen einer Auslandsbehandlung nach § 18 Abs 1 Satz 1 SGB V zu beachten. Dies war nach den bindenden Feststellungen des LSG nicht der Fall.

Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 33/21.

Hinweis zur Verwendung von Cookies

Wir verwenden ausschließlich Sitzungs-Cookies, die für die einwandfreie Funktion unserer Webseite erforderlich sind. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir diese Cookies einsetzen. Unsere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den Link Datenschutz.

OK