Bundessozialgericht

Verhandlung B 14 AS 89/20 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Sozialgeldanspruch - Erwerbsminderungsrente - Sozialhilfe - Versicherungspauschale

Verhandlungstermin 11.11.2021 12:00 Uhr

Terminvorschau

K. O. ./. Jobcenter Berlin Friedrichshain-Kreuzberg
Im Streit steht die Erbringung "ergänzenden" Sozialgelds nach dem SGB II für den Zeitraum von Februar 2018 bis Januar 2019 an den Kläger.

Der Kläger bezieht eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung und Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII. Er lebt mit seiner erwerbsfähigen Ehefrau in einer Bedarfsgemeinschaft. Ihr wurde vom beklagten Jobcenter Alg II - teilweise aufstockend zu geringfügigem Einkommen - erbracht. Die Leistungsgewährung an den Kläger lehnte es ab, da dieser vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen sei.

Im sich anschließenden Gerichtsverfahren hat das SG die Klage auf Sozialgeld abgewiesen. Es vermochte im streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum keinen ungedeckten Bedarf beim Kläger festzustellen. Unabhängig von seinem Sozialhilfeanspruch begründe auch die Regelung des § 19 Abs 1 Satz 2 SGB II keinen aufstockenden Anspruch auf Sozialgeld. Denn dieser entstehe nicht allein durch die "großzügigeren" Regelungen zur Bereinigung von Einkommen im SGB II gegenüber denen des SGB XII. Die unterschiedlichen Regelungen vermieden, dem jeweiligen System angepasst, das Entstehen von Bedarfslücken. Würde die Versicherungspauschale zu einem ergänzenden Leistungsanspruch führen, bestehe in jedem Falle, in dem eine nicht bedarfsdeckende Erwerbminderungsrente bezogen werde und Beiträge für Versicherungen nicht zu leisten seien, ein Anspruch in Höhe von 30,00 Euro gegen das Jobcenter. Auch sei es nicht Sinn und Zweck des § 19 Abs 1 Satz 2 SGB II, die unterschiedliche "Handhabung" zur Berücksichtigung von Kfz-Haftpflichtversicherungsbeiträgen zu umgehen. Eine andere Auslegung konterkariere die Intention des Gesetzgebers, eine reibungsarme Systemabgrenzung zwischen SGB II und SGB XII herzustellen. Auch der Grundsatz der Leistungsgewährung aus einer Hand spreche dafür, dass die aufstockende Gewährung von SGB II-Leistungen die Ausnahme bleiben müsse (Urteil vom 14.10.2020).

Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision führt der Kläger aus, das Vorrang-Nachrang-Verhältnis zwischen Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII und Sozialgeld erfordere, einen Vergleich zwischen Leistungsansprüchen nach dem SGB II und SGB XII. In seinem Falle führe dies zu einem ergänzenden Leistungsanspruch nach dem SGB II, da aufgrund der unterschiedlichen Einkommensanrechnungsregelungen im Hinblick auf die Kfz-Haftpflichtversicherung und die Versicherungspauschale sein Anspruch nach dem SGB XII niedriger sei. Dies müsse durch eine ergänzende Sozialgeldzahlung ausgeglichen werden.

Vorinstanz:
Sozialgericht Berlin - S 174 AS 2778/18, 14.10.2020

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 40/21.

Terminbericht

Der Kläger ist mit seiner Revision gegen das Urteil des SG nicht durchgedrungen.

Er hat im streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf Sozialgeld nach dem SGB II, ergänzend zu den Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII und zu seiner Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Zwar kann auch ein nichterwerbsfähiges Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft, das Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII bezieht, grundsätzlich einen Anspruch auf Sozialgeld haben. Es besteht insoweit allerdings ein Vorrang-Nachrang-Verhältnis. Dies folgt aus § 19 Abs 1 Satz 2 und § 5 Abs 2 Satz 2 SGB II.

Dabei greift nachrangig ein Sozialgeldanspruch nur in dem Ausnahmefall, dass trotz der Erbringung von Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII eine Bedarfsunterdeckung verbleibt. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier - obwohl die Vorschriften des SGB II und SGB XII nicht aufeinander abgestimmt sind und die Bedarfsermittlung nach den Grundsätzen der sogenannten "gemischten Bedarfsgemeinschaft" erfolgt - nicht vor.

Unterschiede zwischen dem SGB II und dem SGB XII bei der Einkommensanrechnung - wie sie vorliegend zur Begründung des Sozialgeldanspruchs geltend gemacht werden - können eine Bedarfsunterdeckung grundsätzlich nicht bewirken. Sie sind lediglich Ausdruck der Differenzierungen der jeweiligen Leistungssysteme aufgrund der mit ihnen verbundenen unterschiedlichen Zwecke.

Unter Berücksichtigung dessen hat der Beklagte zutreffend eine vertikale Berechnung des Leistungsanspruchs des Klägers vorgenommen. Die aus § 9 Abs 2 Satz 3 SGB II folgende horizontale Einkommensberücksichtigung innerhalb der Bedarfsgemeinschaft ist in der vorliegenden Fallgestaltung, in der ein Mitglied tatsächlich Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII erhält, nur eingeschränkt anzuwenden. Denn die Verteilung des Einkommens des SGB XII-Leistungsbeziehers auf die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft würde zu einer doppelten Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einmal durch das SGB XII und einmal durch das SGB II führen. Eine derartige Konsequenz ist erkennbar nicht gewollt und würde auch dem Sinn und Zweck des Vorrang-Nachrangverhältnisses der §§ 19 Abs 1 Satz 2 und 5 Abs 2 Satz 2 SGB II widersprechen.

Ein Anspruch auf ergänzendes Sozialgeld ergibt sich auch nicht allein aufgrund des Abzugs der Versicherungspauschale des § 6 Abs 1 Nr 1 Alg II-V. Danach ist von dem Einkommen volljähriger Leistungsberechtigter ein Betrag in Höhe von 30 Euro monatlich für die Beiträge zu privaten Versicherungen nach § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB II, die nach Grund und Höhe angemessen sind, als Pauschbetrag abzusetzen. Zwar hat die Regelung keine Entsprechung im SGB XII bzw der VO zu § 82 SGB XII gefunden. Dies führt jedoch nicht dazu, dass Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII nicht den Lebensunterhalt sichern. Der Pauschbetrag ist gerade keine zusätzliche, den Bedarf erhöhende Leistung.

Aus diesem Grunde erwächst ein Anspruch des Klägers auf - ergänzendes - Sozialgeld auch nicht daraus, dass seine Kfz-Haftpflichtversicherung nach § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB II - anders als im SGB XII - abzugsfähig wäre.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 40/21.

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