Bundessozialgericht

Verhandlung B 4 AS 3/21 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Mehrbedarf - Fahrtkosten - Strafhaftbesuch - Lebensgefährte

Verhandlungstermin 26.01.2022 11:30 Uhr

Terminvorschau

M.S. ./. Jobcenter Halle
Die Klägerin, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezog, besuchte über einen längeren Zeitraum etwa zweimal pro Monat ihren Strafhaft verbüßenden Lebensgefährten in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) außerhalb ihres Wohnortes. Im Februar 2015 beantragte die Klägerin beim Beklagten unter Vorlage von Tankquittungen die Erstattung der Kosten für zwei Fahrten zur JVA in diesem Monat in Höhe von insgesamt 79,78 Euro. Der Beklagte lehnte den Antrag ab; Widerspruch und Klage sind erfolglos geblieben. Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, der Klägerin für Februar 2015 weitere 79,78 Euro zu gewähren. Die Klägerin habe einen Anspruch aufgrund der Härtefallklausel des § 21 Abs 6 Satz 1 SGB II. Auch enge persönliche Bindungen außerhalb des Schutzbereichs von Art 6 GG könnten mit Blick auf das verfassungsrechtlich zu gewährleistende Existenzminimum von Bedeutung sein, wenn sie als tatsächlich gelebte Beziehung von besonderer Nähe, wechselseitiger Verantwortlichkeit füreinander sowie Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft geprägt seien und deshalb für die individuelle personale Existenz herausgehobene Bedeutung hätten.

Hiergegen richtet sich die vom Senat zugelassene Revision des Beklagten, der eine Verletzung des § 21 Abs 6 SGB II rügt. Er ist der Ansicht, dass der Bedarf nicht unabweisbar gewesen sei. Die Beziehung der Klägerin zu ihrem Lebensgefährten sei nicht mit Ehepaaren oder engen verwandtschaftlichen Beziehungen gleichzusetzen. Vor Haftantritt habe keine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft bestanden. Die Klägerin sei zu Besuchen in der JVA weder rechtlich noch sittlich verpflichtet; eine Kommunikation mittels Brief und Telefon sei möglich.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Halle - S 24 AS 1574/15, 16.03.2017
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt - L 2 AS 346/17, 07.07.2020

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 2/22.

Terminbericht

Die Revision des Beklagten hatte im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg. Der Senat konnte nicht abschließend entscheiden, ob die Klägerin für ihre Fahrten zur JVA einen Anspruch auf Berücksichtigung eines Härtefallmehrbedarfs nach § 21 Abs 6 SGB II für Februar 2015 hat.

Zwar kann ein Härtefallmehrbedarf auch zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen entstehen und ist nicht von vornherein auf die Beziehungspflege zu solchen Personen beschränkt, deren Verhältnis dem Schutzbereich des Art 6 Abs 1 GG unterfällt oder familienrechtlich geregelt ist. Ein Bedarf ist aber nur unabweisbar, wenn ein besonderes Näheverhältnis zu der von der Beziehungs-pflege betroffenen Person besteht. Diese Voraussetzung kann auch erfüllt sein, wenn keine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs 3 Nr 3 Buchstabe c SGB II vorliegt, aber die beiden betroffenen Personen in einer ähnlich engen, exklusiven und gegenüber allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen der leistungsberechtigten Person prioritären Beziehung gelebt haben. Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind, kann der Senat anhand der Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen. In die Beurteilung, ob ein hinreichendes Näheverhältnis besteht, ist insbesondere die Situation vor Beginn der durch die Inhaftierung verursachten räumlichen Trennung einzubeziehen. Für die Beurteilung der Unabweisbarkeit fehlen zudem Feststellungen dazu, ob Möglichkeiten zur Kostensenkung bestanden haben. Ist dies nicht der Fall, wären die von der Klägerin geltend gemachten Kosten in Höhe von 79,78 Euro als erheblich im Sinne von § 21 Abs 6 Satz 2 SGB II anzusehen. Sie übersteigen den im Regelbedarf enthaltenen Anteil für Verkehr von 25,12 Euro um 54,66 Euro und entsprechen einem Anteil von knapp 14 % am maßgeblichen Regelbedarf von 399 Euro. Dies liegt über der Erheblichkeitsschwelle, selbst wenn man berücksichtigt, dass die Klägerin darüber hinaus auch sonstige im Regelbedarf für die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen enthaltene Beträge teilweise für die Fahrtkosten verwenden könnte.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 2/22.

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