Bundessozialgericht

Verhandlung B 7/14 KG 1/20 R

Kinderzuschlag - Familienleistung - Asylbewerberleistungsgesetz - Türkei

Verhandlungstermin 09.03.2022 10:15 Uhr

Terminvorschau

A. C. ./. Bundesagentur für Arbeit
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Kinderzuschlag für die Monate Dezember 2011 und Juni 2013.

Der Kläger und seine Ehefrau sind Eltern von sechs Kindern (geboren zwischen 1989 und 2007). Sie reisten 1989 als Staatenlose aus dem Libanon bzw libanesische Staatsangehörige nach Deutschland ein. Seit 2000 waren sie im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Nachdem die zuständige Ausländerbehörde Kenntnis ua von der türkischen Staatsangehörigkeit des Klägers erlangt hatte, nahm sie im Mai 2011 sämtliche erteilten Aufenthaltstitel auf den Tag ihrer Erteilung zurück. Im Dezember 2011 war der Kläger alsdann im Besitz einer Duldung und im Juni 2013 eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs 5 AufenthG, nachdem er einen türkischen Pass vorgelegt hatte.

Der Kläger war ua im Dezember 2011 und Juni 2013 sozialversicherungspflichtig beschäftigt und erzielte hieraus eine Vergütung in Höhe von jeweils rund 1300 Euro. Seine Ehefrau erzielte im Juni 2013 Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit in Höhe von 825 Euro. Der Familie wurde in den streitigen Monaten Wohngeld und Kindergeld gezahlt.

Die vom Kläger im November 2011 beantragte Gewährung von Kinderzuschlag wurde von der beklagten Familienkasse abgelehnt. Durch die Zahlung von Kinderzuschlag könne Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II nicht vermieden werden. Denn der Kläger und seine Familie unterfielen als potenzielle Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG der Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II. Vom SG ist die Beklagte - nach Beschränkung des streitigen Zeitraums auf die eingangs benannten Monate - verurteilt worden, für diese Kinderzuschlag zu gewähren. Die Beklagte ist vor dem LSG mit ihrer Berufung hiergegen teilweise erfolgreich gewesen. Das LSG hat das Urteil des SG geändert und die Klage betreffend Dezember 2011 abgewiesen. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar sei der Kläger aufgrund § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II iVm § 6a Abs 1 Nr 4 BKGG (mittelbar) von der Gewährung eines Kinderzuschlags ausgeschlossen. Der Anspruch des Klägers für Juni 2013 folge jedoch aus dem in Art 3 Abs 1 des Beschlusses Nr 3/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei (ARB Nr 3/80) normierten assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbot. Er falle als erwerbstätiger türkischer Staatsangehöriger, dem ein Aufenthaltstitel nach § 25 Abs 5 AufenthG erteilt wurde, sowohl unter den persönlichen als auch den sachlichen Geltungsbereich des ARB Nr 3/80. Der Kinderzuschlag nach § 6a BKGG stelle eine “Familienleistung“ iS des Art 4 Abs 1 Buchst h ARB Nr 3/80 dar. Für den Monat Dezember 2011 könne sich der Kläger nicht auf das Diskriminierungsverbot berufen. Sein Aufenthalt sei in dieser Zeit nur geduldet gewesen.

Mit ihren vom LSG zugelassenen Revisionen rügen die Beteiligten jeweils eine Verletzung des § 6a Abs 1 Nr 4 BKGG sowie des Art 3 Abs 1 ARB Nr 3/80.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Stuttgart - S 25 BK 2832/12, 21.09.2017
Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 7 BK 4174/17, 22.10.2020

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 7/22.

Terminbericht

Die Revisionen der Beteiligten sind unbegründet. Zutreffend hat das LSG einen Anspruch des Klägers auf Kinderzuschlag für den Monat Juni 2013 bejaht und für den Monat Dezember 2011 verneint.

Kinderzuschlag nach § 6a Abs 1 BKGG idF vom 24.3.2011 erhalten Personen für in ihrem Haushalt lebende unverheiratete Kinder, die noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, wenn sie für diese Kinder nach diesem Gesetz oder nach dem X. Abschnitt des EStG Anspruch auf Kindergeld haben (Nr 1), sie mit Ausnahme des Wohngelds und des Kindergelds über Einkommen iS des § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II in Höhe von 900 Euro verfügen (Nr 2), sie mit Ausnahme des Wohngelds über Einkommen oder Vermögen iS der §§ 11 bis 12 SGB II verfügen, das höchstens dem nach Abs 4 Satz 1 für sie maßgebenden Betrag zuzüglich dem Gesamtkinderzuschlag nach Abs 2 entspricht (Nr 3), und durch den Kinderzuschlag Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II vermieden wird (Nr 4). Die Voraussetzungen des § 6a Abs 1 Nr 1 bis 3 BKGG sind vorliegend für beide streitigen Zeiträume gegeben.

Dies gilt jedoch nicht für § 6a Abs 1 Nr 4 BKGG. Denn Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II kann dann nicht vermieden werden, wenn der Antragsteller keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hat, weil er von diesen ausgeschlossen ist. Dies ist beim Kläger nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II der Fall. Er war aufgrund der Duldung seines Aufenthalts in Deutschland und der ihm später erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 AufenthG leistungsberechtigt nach § 1 Abs 1 Nr 3 und 4 AsylbLG.

Der Kläger kann sich im Hinblick auf die SGB II-Leistungsberechtigung auch nicht auf eine Inländergleichbehandlung bei der Gewährung von “Fürsorge“ aufgrund des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA - vom 11.12.1953) berufen. Für den Monat Juni 2013 steht der Gleichbehandlung der von der Bundesregierung im Dezember 2011 erklärte Vorbehalt betreffend Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entgegen. Im Monat Dezember 2011 war der Aufenthalt des Klägers nicht "erlaubt" im Sinne des Art 1 EFA - eine Duldung (§ 60a AufenthG) reicht hierfür nicht aus.

Dem Kläger steht insoweit auch kein materielles assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der EWG und der Türkei (Assoziationsabkommen EWG-Türkei - vom 12.9.1963) zur Seite.

Für Juni 2013 kann der Kläger sich jedoch auf das assoziationsrechtliche Gleichbehandlungsgebot bzw Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit des Art 3 Abs 1 ARB Nr 3/80 vom 19.9.1980 berufen. Die ihn benachteiligende Regelung des § 6a Abs 1 Nr 4 BKGG iVm § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II durfte ihm mithin nicht entgegen gehalten werden. 

Er erfüllt insoweit - anders als im Dezember 2011 - die persönlichen Voraussetzungen des ARB. Nach Art 2 ARB Nr 3/80 gilt der Beschluss für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten und die türkische Staatsangehörige sind, sowie ua für Familienangehörige dieses Arbeitnehmers, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen. Der Kläger - türkischer Staatsangehöriger - war im Juni 2013 versicherungspflichtig in Deutschland beschäftigt und "wohnte" im assoziationsrechtlichen Sinn in Deutschland. Er verfügte in diesem Monat über eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Im Monat Dezember 2011 mangelte es bereits hieran. Durch die dem Kläger erteilte Duldung wurde kein rechtmäßiger Aufenthalt begründet, sondern lediglich die Abschiebung zeitweise ausgesetzt.

Der hier begehrte Kinderzuschlag nach § 6a BKGG unterfällt auch dem sachlichen Geltungsbereich des ARB als "Familienleistung" iS des Art 4 Abs 1 Buchst h ARB Nr 3/80 und ist keine Fürsorgeleistung. Buchstabe a dieser Vorschrift bestimmt ausdrücklich, dass der Ausdruck "Familienleistungen" die Bedeutung hat, wie sie in Art 1 VO (EWG) Nr 1408/71 definiert ist. Die VO (EWG) Nr 1408/71 definiert Familienleistungen als Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten. Dabei entspricht es ständiger Rechtsprechung des EuGH, den Ausdruck "Ausgleich von Familienlasten" dahin auszulegen, dass er ua einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget erfassen soll, der die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringert. Mit dem Kinderzuschlag hat der Gesetzgeber eine dem Alg II vorgelagerte einkommensabhängige Leistung geschaffen, die zusammen mit dem Kindergeld und dem auf Kinder entfallenden Wohngeldanteil den durchschnittlichen Bedarf von Kindern an Alg II bzw Sozialgeld abdeckt. Durch die Einführung des Kinderzuschlags wollte der Gesetzgeber des 4. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt verhindern, dass Familien allein wegen der Unterhaltsbelastung für ihre Kinder auf Alg II angewiesen sind. Die Leistung ist daher im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der Vermeidung von Hilfebedürftigkeit iS des § 9 SGB II zwar eng mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende verknüpft und setzt insoweit an der individuellen Bedürftigkeit an. Die Höhe des Kinderzuschlags ist jedoch zunächst unabhängig von der individuellen Bedarfssituation gesetzlich einheitlich festgelegt und dient dem Ausgleich von Familienlasten, indem sie durch einen staatlichen Beitrag den Unterhalt von Kindern verringert. Vor diesem Hintergrund handelt es sich beim Kinderzuschlag um eine familienpolitische Leistung und gerade keine Fürsorge.

Soweit der Kläger für Dezember 2011 nicht anspruchsberechtigt ist, kann er keinen weitergehenden Anspruch auf Gleichbehandlung aus dem sowohl von der Bundesrepublik als auch von der Türkei ratifizierten Vorläufigen Europäischen Abkommen über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 11.12.1953 herleiten.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 7/22.

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