Verhandlung B 11 AL 4/21 R
Arbeitslosenversicherung - Arbeitslosengeld - Grenzgänger - Beitragsbemessungsgrenze
Verhandlungstermin
29.03.2022 10:30 Uhr
Terminvorschau
T. W. ./. Bundesagentur für Arbeit
Der Kläger war 19 Monate in der Schweiz, wo er auch wohnte, als Chefredakteur beschäftigt und versichert. In den letzten zwölf Monaten des Arbeitsverhältnisses erzielte er einen durchschnittlichen Bruttomonatslohn von umgerechnet mehr als 8.500 Euro. Seine bisherige Wohnung in Berlin behielt er während der Auslandstätigkeit bei; in der Regel kehrte er wöchentlich nach Deutschland zurück, um persönliche Kontakte im Familien- und Freundeskreis zu pflegen.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger Arbeitslosengeld in Höhe von 62,29 Euro täglich. Dabei berücksichtigte sie sein zuletzt in der Schweiz erzieltes Arbeitsentgelt nur bis zur Höhe der deutschen Beitragsbemessungsgrenze. Widerspruch, Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben. Der Kläger sei als ehemaliger Grenzgänger so zu stellen, als habe schon seine Auslandsbeschäftigung deutschem Recht unterlegen. Dass es in der Schweiz keine Beitragsbemessungsgrenze gebe, sei unerheblich. In der Rechtsprechung des EuGH sei geklärt, dass sich die Leistungen bei Vollarbeitslosigkeit eines Grenzgängers nach dem Recht seines Wohnsitzstaates (und nicht des Beschäftigungsstaates) richteten.
Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Die Beklagte habe das Erwerbseinkommen aus seiner Tätigkeit in der Schweiz in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen. Die Beitragsbemessungsgrenze sei geeignet, Arbeitnehmer von einer Tätigkeit als Grenzgänger abzuhalten und schränke damit deren Freizügigkeit ein.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Berlin - S 62 AL 4518/15, 15.01.2020
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 14 AL 20/20, 26.11.2020
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Terminbericht
Die Revision des Klägers ist zurückgewiesen worden. Die Berechnung des Alg nach einem Bemessungsentgelt in Höhe von 197,53 Euro täglich unter Beachtung der deutschen Beitragsbemessungsgrenze ist rechtmäßig.
Nach den Regelungen der VO (EG) Nr 883/2004 steht dem Kläger als ehemaligem Grenzgänger ein Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung gegen die Beklagte nach deutschem Recht zu. Daraus ergibt sich zwingend auch die Anwendbarkeit der Beitragsbemessungsgrenze, weil das Koordinierungsrecht auf eine Gleichbehandlung eines Grenzgängers mit inländischen Arbeitnehmern abzielt. Dies führt zur Berechnung des Arbeitslosengeldanspruchs in gleicher Weise, wie wenn der Kläger das Arbeitsentgelt im Bemessungszeitraum in Deutschland erzielt hätte. An dieser Sachentscheidung ist der Senat nicht durch die Vorlagepflicht letztinstanzlicher nationaler Fachgerichte aus Art 267 Abs 3 AEUV gehindert gewesen. Die entscheidungserhebliche Rechtsfrage lässt sich unter Berücksichtigung der schon vorhandenen EuGH-Rechtsprechung zu den Koordinierungsvorschriften für Leistungen bei Arbeitslosigkeit für ehemalige Grenzgänger in der VO (EG) 883/2004 und deren Vorläuferregelungen in der VO (EG) 1408/71 eindeutig beantworten. Ein im Einzelfall auftretender finanzieller Nachteil rechtfertigt - auch nach den Bestimmungen des AEUV - keine Abweichung von der durch die VO vorgenommenen Zuständigkeitsverteilung. Unterschiedliche Leistungen in Beschäftigungs- und Wohnsitzstaat sind nicht als Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer anzusehen, da sie Folge der fehlenden Harmonisierung des einschlägigen Unionsrechts sind.
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