Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 4/20 R

Krankenversicherung - Festbetragsfestsetzung - Hilfsmittel - Einlagen

Verhandlungstermin 07.04.2022 11:00 Uhr

Terminvorschau

1. a. O. GmbH, 2. Landesinnung für Orthopädie-Schuhtechnik N., 3. Innung für Orthopädie-Schuhtechnik M.-V., 4. Innung für Orthopädie-Schuhtechnik B. ./. GKV-Spitzenverband
Im Streit steht die Festsetzung von Hilfsmittelfestbeträgen nach § 36 SGB V.

Die Klägerinnen - eine Orthopädieschuhtechnikgesellschaft als Klägerin zu 1 sowie Landesinnungen für Orthopädie-Schuhtechnik als Klägerinnen zu 2 bis 4 - wenden sich gegen die Festsetzung von Festbeträgen für Einlagen durch den beklagten GKV-Spitzenverband vom 22.3.2017 (BAnz AT 31.3.2017 B4), mit der die Festsetzung vom 12.12.2011 zum 1.4.2017 abgelöst und die ihrerseits mit Wirkung zum 1.4.2020 ersetzt worden ist. Sie beruht auf Erhebungen zu Materialkosten, Zeitanteilen und Stundensätzen im Handwerk, aus denen der Beklagte nach Anhörung ua der Klägerin zu 2 sowie weiterer berührter Organisationen Festbeträge für acht im Einzelnen bezeichnete Einlagenpositionen abgeleitet hat. Dagegen haben die Klägerinnen mit ihren Klagen geltend gemacht, die Festbeträge müssten sich an Abgabepreisen orientieren. Der Beklagte habe nicht Einkaufspreise von Materialien zu ermitteln und Kalkulationen durchzuführen, sondern nach § 36 Abs 2 SGB V Abgabepreise für die jeweiligen Produkte zu ermitteln und daraus Festbeträge zu bilden.

Das LSG hat die Klagen abgewiesen; sie seien zulässig, aber unbegründet. Bei Festbeträgen für Hilfsmittel sei ein eigener Prüfungsmaßstab unter Berücksichtigung ihrer Besonderheiten anzuwenden, der grundsätzlich mehrere vertretbare Ermittlungsweisen eröffne. Bei betriebswirtschaftlichen Überlegungen und Berechnungen sei die gerichtliche Überprüfung auf die Nachvollziehbarkeit und Widerspruchsfreiheit beschränkt. Daran gemessen sei nicht zu erkennen, dass das Kalkulationsschema des Beklagten fehlerbehaftet sei.

Mit ihren vom LSG zugelassenen Revisionen rügen die Klägerinnen materiell die Verletzung der §§ 35, 36 und 127 SGB V. Richtigerweise sei auf den Abgabepreis der Einlagen in der üblichen Abgabemenge abzustellen. Die Vorgehensweise des Beklagten konterkariere den Gesetzeszweck, durch Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven und Auslösung eines wirksamen Preiswettbewerbs möglichst preisgünstige Versorgungsmöglichkeiten zu erreichen. Das führe nicht dazu, dass die Festbeträge eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche sowie in der Qualität gesicherte Versorgung gewährleisteten. Verfahrensrechtlich rügen die Klägerinnen als Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör, dass sich das LSG nicht in der gebotenen Tiefe mit ihrem Vortrag auseinandergesetzt und damit gegen seine Begründungspflichten verstoßen habe.

Vorinstanz:
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg  - L 1 KR 178/17 KL, 11.03.2020

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Terminbericht

Die Revisionen der Klägerinnen waren begründet. Zutreffend machen sie geltend, dass die streitbefangene Neufestsetzung der Festbeträge für Einlagen den gesetzlichen Anforderungen nicht genügt und deshalb eine neue Regelung zu treffen ist.

Die Klagen darauf hat das LSG zu Recht als zulässig erachtet. Statthaft machen die Klägerinnen im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage in der Sonderform der Bescheidungsklage sinngemäß geltend, dass die zuletzt vor dem streitbefangenen Zeitraum 2011 festgesetzten Festbeträge für Einlagen mit den angefochtenen Festsetzungen unzureichend an die veränderte Marktlage angepasst worden und deshalb aufzuheben seien und der beklagte GKV-Spitzenverband deshalb zu einer neuen Sachentscheidung - mit höheren Festbeträgen - verpflichtet sei (§ 36 Abs 3 iVm § 35 Abs 5 Satz 3 SGB V). Dazu sind sie auch klagebefugt. Dass von einer Festbetragsfestsetzung betroffene Leistungserbringer zulässig die Verletzung eigener Rechte rügen können, ist in der Rechtsprechung des BSG seit langem anerkannt. Das gilt für Hilfsmittelfestbeträge erst recht. Ihnen kommt im Verhältnis zum Grundmodell der Arzneimittelfestbeträge des § 35 SGB V eine Sonderstellung insoweit zu, als sie nach der Vertragskonzeption der §§ 126, 127 SGB V nicht nur die Leistungspflicht der Krankenkassen und den Sachleistungsanspruch Versicherter, sondern auch Abgabepreise der Leistungserbringer für Hilfsmittel begrenzen. Von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasste Hilfsmittel können demgemäß seit 2007 ausschließlich auf der Grundlage von Verträgen abgegeben werden, in denen - soweit Festbeträge festgesetzt sind - Preise höchstens bis zu deren Höhe vereinbart werden können. Mit diesem Regelungsgefüge entfaltet ein Hilfsmittelfestbetrag anders als ein Arzneimittelfestbetrag preisregulierende Wirkung und greift damit in das von der Berufsfreiheit der Leistungserbringer umfasste Recht ein, den Preis der von ihnen angebotenen Güter selbst festzulegen.

Anders als zur früheren Rechtslage ist der Senat daher auf der Grundlage der Vertragskonzeption des § 127 SGB V schon in der Vergangenheit davon ausgegangen, dass an der Hilfsmittelversorgung teilnehmende Leistungserbringer in eigenen Rechten verletzt sein können und demzufolge sie selbst und zur Wahrnehmung ihrer Interessen berechtigte Handwerksinnungen klagebefugt sind, soweit sie rügen, dass von der Befugnis zur Festsetzung von Hilfsmittelfestbeträgen in einer von der Ermächtigung nicht gedeckten Weise Gebrauch gemacht worden ist (BSG vom 22.11.2012 – B 3 KR 19/11 R – BSGE 112, 201 = SozR 4-2500 § 36 Nr 3, RdNr 37 ff); daran ist festzuhalten. Entsprechend liegt es, soweit betroffene Leistungserbringer die Anpassung eines bestehenden Festbetrags an eine “veränderte Marktlage“ als unzureichend rügen und eine erneute Entscheidung für geboten erachten. Insoweit ist die Verpflichtung zur regelmäßigen Überprüfung der bestehenden Festbeträge mindestens im Regelungszusammenhang mit § 127 Abs 4 SGB V dem Schutz auch der betroffenen Leistungserbringer zu dienen bestimmt, weshalb ihre Verletzung zulässig mit dem Ziel gerügt werden kann, den Beklagten zu einer neuen Überprüfungsentscheidung zu verpflichten.

Dafür entfällt das Rechtsschutzbedürfnis auch dann nicht, wenn der Geltungszeitraum der angefochtenen Festsetzung während des Rechtsstreits ausgelaufen ist. Dass deren Korrektur in dieser Lage keine Rechtswirkungen mehr entfalten könnte, ist nicht zu erkennen. Kommt es - wie hier erstrebt - nach erneuter Überprüfung zu einer nachträglichen Anhebung eines oder mehrerer der streitbefangenen Hilfsmittelfestbeträge, ist dem im Vertragsmodell des § 127 SGB V durch eine entsprechende Anpassung der Vergütung(en) vielmehr auch dann Rechnung zu tragen, wenn die Versorgungen schon abgeschlossen sind, solange sie nach den maßgeblichen Verträgen nicht zu Preisen unterhalb des Festbetrags abzugeben waren; andernfalls würde der Rechtsschutz gegen eine von der gesetzlichen Ermächtigung nicht gedeckte Festsetzung oder eine den gesetzlichen Anforderungen nicht genügende Fortschreibung von Hilfsmittelfestbeträgen in diesem Regelungszusammenhang in einer mit der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG nicht zu vereinbarenden Weise ins Leere laufen.

In der Sache sind Hilfsmittelfestbeträge fortzuschreiben, sobald ein Jahr nach der letzten Festsetzung eine “veränderte Marktlage“ gegeben ist (§ 36 Abs 3 iVm § 35 Abs 5 Satz 3 SGB V). Das beurteilt sich im Referenzsystem des § 35 SGB V für Arzneimittelfestbeträge nach den Marktrealitäten (BSG vom 3.5.2018 – B 3 KR 9/16 R – SozR 4-2500 § 35 Nr 8 RdNr 27). Spielräume eröffnet das nur bei prognostischen Elementen zu den Auswirkungen der Festbetragsanpassung (zuletzt BSG vom 3.5.2018 – B 3 KR 9/16 R – SozR 4-2500 § 35 Nr 8 RdNr 33). Kein Beurteilungsspielraum besteht hingegen insbesondere im Hinblick darauf, dass im Allgemeinen eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche, in der Qualität gesicherte Versorgung gewährleistet sein muss. Ebenso wenig sind wirtschaftslenkende Handlungsspielräume eröffnet (BVerfG vom 17.12.2002 – 1 BvL 28/95 uaBVerfGE 106, 275 = SozR 3-2500 § 35 Nr 2, juris RdNr 107). Maßgebende Parameter der Arzneimittelfestbetragsberechnung sind demgemäß Abgabepreise und Verfügbarkeiten von Arzneimitteln, was uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliegt (BSG vom 1.3.2011 – B 1 KR 7/10 R – BSGE 107, 261 = SozR 4-2500 § 35 Nr 5, RdNr 52).

Das gilt für Hilfsmittelfestbeträge grundsätzlich nicht anders. Deren Berechnung unterliegt keinen eigenständigen Vorgaben, sondern ausschließlich der entsprechenden Geltung von § 35 Abs 5 SGB V (§ 36 Abs 3 SGB V). Das lässt Raum für die Berücksichtigung von Hilfsmittelbesonderheiten nur, soweit einzelne Berechnungsparameter des § 35 Abs 5 SGB V mangels Übertragbarkeit in die Hilfsmittelfestbetragsberechnung nicht eingehen können. Für Lockerungen im Hinblick auf die strikte Orientierung an den von den Leistungserbringern im Wettbewerbsumfeld selbst festgelegten Abgabepreisen von Hilfsmitteln lässt die Verweisung auf § 35 Abs 5 SGB V nach ihrer Konzeption und weiteren Entwicklung hingegen keinen Raum. Das belegt nicht zuletzt die 2007 eingeführte Verpflichtung von Herstellern und Leistungserbringern zur Erteilung von Informationen und Auskünften zur Festbetragsbemessung, die mit der Wendung “insbesondere auch zu den Abgabepreisen der Hilfsmittel“ ausdrücklich an das Regelungskonzept des § 35 Abs 5 SGB V anschließt (vgl § 36 Abs 2 Satz 3 SGB V); das macht ebenfalls deutlich, dass das in § 35 Abs 5 SGB V angelegte Konzept einer an (marktrealen) Abgabepreisen orientierten Festbetragsfestsetzung auch für Hilfsmittel maßgeblich sein soll.

Soweit Festbeträge für Hilfsmittel nach § 127 Abs 4 SGB V Obergrenzen für die Abgabepreise im Vertragssystem des § 127 SGB V vorgeben, folgt hieraus nichts anderes. Erachtet der Gesetzgeber im sozialrechtlichen Leistungserbringungsrecht Preisregulierungen für geboten, bedient er sich dazu regelmäßig der Verpflichtung zur Aufnahme von Preisverhandlungen mit der Möglichkeit der Anrufung einer Schiedsstelle, wie zwischenzeitlich mit § 127 Abs 1a SGB V nunmehr auch für die Hilfsmittelversorgung. Überlässt er die Preisfindung den Beteiligten dagegen ohne Vorgabe eines Schiedsverfahrens, kann von äußersten Grenzen abgesehen keine Seite eine gerichtliche Entscheidung über die angemessene Vergütung nach Art eines Schiedsverfahrens beanspruchen; das hat der erkennende Senat zur Vergütung qualifizierter Krankentransportleistungen jüngst ausdrücklich bekräftigt (BSG vom 17.2.2022 - B 3 KR 13/20 R - ). Soweit der Gesetzgeber bis dahin von einer entsprechenden Regelung für die Vergütung von Leistungen zur Hilfsmittelversorgung abgesehen hatte, ermächtigte die Befugnis zur Festsetzung von Hilfsmittelfestbeträgen nach § 36 SGB V iVm § 35 SGB V danach schon nach der Regelungssystematik nicht zur Einbeziehung kalkulatorischer Ansätze in die Berechnung von Hilfsmittelfestbeträgen, wie sie ansonsten Vertragsverhandlungen und ggfs nachfolgenden Schiedsverfahren vorbehalten sind; nunmehr verfahrensrechtlich ausdrücklich ebenfalls verstärkt mit der Verpflichtung zur Vorlage von Kalkulationsgrundlagen (§ 127 Abs 1a Satz 6 und 7 SGB V), wie es im Vergütungsrecht des SGB XI seit langem vorgesehen ist (§ 85 Abs 3 Satz 2 bis 5 SGB XI).

Hiernach kann die Neuausrichtung von § 127 SGB V nur verstanden werden als Versuch, über zwei unterschiedliche Wege - Anreiz zu Preiswettbewerb durch Begrenzung der Einstandspflicht auf das untere Drittel der tatsächlich verlangten Hilfsmittelpreise einerseits und Preisverhandlungen andererseits - eine gleichermaßen kostengünstige und qualitätsvolle Hilfsmittelversorgung sicherstellen zu können. Sollte sich diese Vorstellung wegen Besonderheiten des Hilfsmittelmarkts oder bedingt durch Auswirkungen von § 127 Abs 4 SGB V auf die Feststellung von tatsächlichen Abgabepreisen als nicht oder nur eingeschränkt umsetzbar erweisen, rechtfertigte das gleichwohl nicht, die Festsetzung von Hilfsmittelfestbeträgen partiell von den Marktrealitäten zu entkoppeln und ergänzend kalkulatorisch bestimmte Vergütungsanteile in die Festbetragsberechnung einzubeziehen; hierzu ermächtigen die Befugnisse aus § 36 SGB V iVm § 35 Abs 5 SGB V nicht.

Dem genügt die streitbefangene Festsetzung nicht. Wie das LSG unangegriffen und damit bindend (§ 163 SGG) festgestellt hat, sind die streitbefangenen Festbeträge Ergebnis einer Kalkulation unter Rückgriff auf Erhebungen zu Materialkosten, einen geschätzten Anteil für Materialverschnitt, den basierend auf Auskünften von Verbänden der Orthopädieschuhtechnik von dem Beklagten als ausreichend erachteten Zeitaufwand für die Materialbearbeitung, aus anderen Handwerken abgeleiteten Personalkosten, einen aus dem Jahr 2014 abgeleiteten und um eine Steigerungsrate von 1,5 % jährlich erhöhten Gemeinkostenzuschlag und schließlich einen vom Beklagten als angemessen erachteten prozentualen Anteil für Unternehmerrisiko und -gewinn von 5 %. Damit sind sie kein Abbild von Marktrealitäten, sondern Ergebnis wertender Setzung, was die Abgabe der streitbefangenen Hilfsmittel (höchstens) kosten darf. Das kann nach dem Regelungsansatz des § 127 SGB V allerdings erst das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern auf der zweiten Stufe des Preisbildungskonzepts sein (vgl nunmehr ausdrücklich § 127 Abs 1a SGB V insbesondere mit Satz 6 und 7) und nicht als vorweggenommene verbindliche Preisobergrenze bereits auf der ersten Stufe im Verfahren nach §§ 36, 35 SGB V einseitig festgesetzt werden; das verletzt die betroffenen Leistungserbringer in ihrer durch Art 12 Abs 1 GG geschützten Vertragsabschlussfreiheit.

Hiernach ist die angefochtene Allgemeinverfügung aufzuheben und der Beklagte zur erneuten Entscheidung über die streitbefangenen Festbeträge zu verpflichten; insoweit schließt die gebotene Beteiligung der Leistungserbringer (§ 36 Abs 1 Satz 3, Abs 2 Satz 2 SGB V) nach der erforderlichen weiteren Datenerhebung die Herstellung der Spruchreife im gerichtlichen Verfahren aus (§ 131 Abs 2 Satz 2, Abs 3 SGG). Im Interesse der Rechtssicherheit für die Zwischenzeit bis zur abschließenden Neuregelung durch den Beklagten erfolgt die Aufhebung mit der Maßgabe, dass ihre Wirkungen mit dessen neuer Entscheidung eintreten (ähnlich BSG vom 15.3.2017 – B 6 KA 22/16 R – SozR 4-5540 Anl 9.1 Nr 9). Ohnehin ist insoweit im Verhältnis zu den Klägerinnen eine Fortschreibung der streitbefangenen Festbeträge zu niedrigeren als den angefochtenen Beträgen durch das Verböserungsverbot des § 123 SGG ausgeschlossen; im Verhältnis zu den anderen Adressaten dürfte das aus Vertrauensschutzgründen ebenso gelten.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 15/22.

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