Bundessozialgericht

Verhandlung B 7/14 AS 57/21 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - vorläufige und abschließende Entscheidung - Zugunstenverfahren - Ausschlussfrist

Verhandlungstermin 13.07.2022 11:15 Uhr

Terminvorschau

M. D. und G.S. ./. Jobcenter Herne
Streitig ist - im Wege eines sog Zugunstenverfahrens -, ob die Kläger Anspruch auf die abschließende Festsetzung von Alg II für Juli bis Dezember 2016 bis zur Höhe der vorläufig erbrachten Leistungen haben.

Das beklagte Jobcenter setzte das von den Klägern zu beanspruchende Alg II nach zunächst vorläufiger Erbringung ua für Juli bis Oktober 2016 sowie November und Dezember 2016 abschließend fest. Dabei erfolgten kleinere Korrekturen bei den laufenden Einnahmen aus Erwerbstätigkeit. Auch berücksichtigte der Beklagte nun monatlich zusätzlich sonstiges Einkommen des Klägers in Höhe von rund 333 Euro. Diese Bescheide aus April und Juli 2017 enthielten keinen Hinweis auf ggf zu erstattende Leistungen und wurden bestandskräftig. Auf deren Grundlage forderte der Beklagte im Februar 2018 für Juli bis Oktober 2016 nach Anrechnung der vorläufig erbrachten Leistungen von jedem der Kläger die Erstattung von monatlich rund 170 Euro. Die hiergegen gerichteten Klageverfahren wurden vom SG ruhend gestellt. Mit weiteren Bescheiden aus Juli 2018 forderte der Beklagte auch für die Monate November und Dezember 2016 Erstattungen der Leistungen in der benannten Höhe. Die diesbezüglichen Widerspruchsverfahren stellte der Beklagte ruhend.

Anfang August 2018 beantragten die Kläger alsdann die Überprüfung der abschließenden Festsetzungen für den verfahrensgegenständlichen Zeitraum. Bei dem Einkommen in Höhe von rund 333 Euro habe es sich um ein Darlehen ihrer Tochter gehandelt, das sie hätten zurückzahlen müssen. Der Beklagte lehnte eine Änderung der Bescheide ab.

Im Klage- und Berufungsverfahren sind die Kläger erfolglos geblieben. Das LSG hat zur Begründung ua ausgeführt, der Beklagte sei aufgrund der einjährigen Ausschlussfrist des § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II iVm § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X nicht verpflichtet, SGB II-Leistungen rückwirkend für das Jahr 2016 zu erbringen. Die vorläufige und sodann abschließende Leistungserbringung gemäß § 41a SGB II rechtfertige kein anderes Ergebnis. Dem stehe die Rechtsprechung des BSG (BSG vom 13.2.2014 - B 4 AS 19/13 R) nicht entgegen.

Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung des § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II iVm § 44 Abs 4 SGB X.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Gelsenkirchen - S 41 AS 469/19, 21.07.2020
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 21 AS 1280, 28.05.2021

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 27/22.

Terminbericht

Der Senat vermochte nicht abschließend über die Revisionen der Kläger zu befinden. Es fehlt an ausreichenden Feststellungen des LSG zur Höhe des Alg II, insbesondere wegen der Zahlungen der Tochter, die der Beklagte trotz der Angabe der Kläger, es handele sich um ein Darlehen, iHv rund 333 Euro monatlich bei der abschließenden Feststellung der Leistungen als Einkommen berücksichtigt hat. Allerdings steht ihrem Anspruch auf inhaltliche Entscheidung des Überprüfungsantrags - anders als vom LSG angenommen und von dem Beklagten befunden - die einjährige Ausschlussfrist des § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II iVm § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X nicht entgegen.

Nach § 40 Abs 1 SGB II iVm § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist - auch nach seiner Unanfechtbarkeit - ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Leistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist entsprechend anzuwenden auf Fälle wie den vorliegenden.

Den Klägern sind Sozialleistungen iS des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X zwar nicht “nicht erbracht“ worden. Vielmehr sind auf Grundlage der vorläufigen Bewilligung Sozialleistungen (aus)gezahlt worden. § 41a SGB II greift wie § 328 SGB III und § 41 SGB I den Begriff des Erbringens von Leistungen als Inhalt einer vorläufigen Entscheidung auf. Gemeint ist mit “Erbringen“ dabei allgemein die Zahlung.

Auf die Rückabwicklung von vorläufig erbrachtem Alg II ist aber die Rechtsprechung zur entsprechenden Anwendbarkeit von § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X bei Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden zu übertragen, wenn abschließende Festsetzungsbescheide niedrigere Leistungen bewilligen als eine vorangegangene vorläufige Entscheidung. § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X erfasst nach seinem Regelungszweck auch solche Fallgestaltungen. Denn die niedrigere abschließende Festsetzung der Leistungsansprüche zieht im Grundsatz zwingend die Pflicht zum Erlass eines Erstattungsbescheids nach sich. Nach der Konzeption des § 41a Abs 3 und Abs 6 SGB II sollen der abschließende Festsetzungsbescheid mit (der Anrechnungs- und) der Erstattungsverfügung eine rechtliche Einheit bilden. Abweichende Umsetzungen im Einzelfall - wie hier mit einem rund einjährigen Abstand zwischen abschließender Festsetzung und Bescheidung der Erstattung - führen nicht zum Austausch der Rechtsgrundlage einer Rücknahmeentscheidung hin zu § 44 Abs 2 SGB X. Daraus folgt auch, dass das Jobcenter kein Ermessen bei der Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit auszuüben hat (§ 44 Abs 2 Satz 2 SGB X).

Ebenso wenig steht der Ablauf der - verkürzten - Verfallsfrist des § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II iVm § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Bescheide über die abschließende Festsetzung entgegen. Für die Überprüfung der abschließenden Feststellung der Leistungen greift nicht diese verkürzte Ausschlussfrist, sondern die Vierjahresfrist des § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II. Insoweit gilt es, die sich in der ständigen Rechtsprechung des BSG widerspiegelnde Grundüberlegung für die Beschränkung des § 44 Abs 4 SGB X durch § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II vor Augen zu halten. Laufende Sozialleistungen sollen danach wegen ihres Unterhaltscharakters nicht für einen längeren Zeitraum nachgezahlt werden. Diese gesetzgeberischen Erwägungen greifen in der vorliegenden Fallkonstellation nicht, weil es im Hinblick auf die eingangs dargelegte Bedeutung des Begriffs des “Erbringens“ bei einer niedrigeren abschließenden Festsetzung gegenüber der vorläufigen Bewilligung nicht um eine Nachzahlung geht. Vielmehr sind - wenn auch vorläufig geleistete - Zahlungen rückabzuwickeln. Diese Auslegung stimmt überein mit der gesetzgeberischen Abgrenzungsentscheidung in § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 1 gegenüber Nr 2 SGB II.

Ausgehend von dem Überprüfungsantrag vom 2.8.2018 befindet sich die geltend gemachte Korrektur der Bescheide des Beklagten für Juli bis Dezember 2016 auch innerhalb der Vierjahresfrist des § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II iVm § 44 Abs 1 SGB X.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 27/22.

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