Bundessozialgericht

Verhandlung B 7/14 AS 75/20 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Einkommensberücksichtigung - Trinkgelder

Verhandlungstermin 13.07.2022 14:00 Uhr

Terminvorschau

P. H.-R. ./. Jobcenter Deggendorf
Im Streit steht im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Bewilligung von höherem Alg II.

Die Klägerin war in einem Gasthaus im Service tätig. Neben ihrem Entgelt erhielt sie aus dieser Tätigkeit Trinkgeld iHv 25 Euro monatlich. Das beklagte Jobcenter bewilligte ihr 2014/2015 Alg II jeweils unter Berücksichtigung der Trinkgelder als sonstigem Einkommen. Zeitweilig bezog die Klägerin zudem Alg nach dem SGB III.

Auf einen Überprüfungsantrag der Klägerin aus September 2015 erhöhte der Beklagte unter Änderung der vorhergehenden Bescheide die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Der Beklagte berücksichtigte bei seiner Berechnung Erwerbseinkommen aus der Tätigkeit als Servicekraft sowie die Trinkgelder, gemindert um den Grundfreibetrag bei Erwerbstätigkeit. In die Berechnung bezog er zudem das Alg nach dem SGB III ein, reduziert um die Kosten für eine Haftpflichtversicherung, einen Riester-Sparvertrag und eine anteilige Versicherungspauschale.

Vor dem SG ist die Klägerin mit dem Begehren nach höherem Alg II ua wegen der Nichtberücksichtigung der Trinkgelder als Einkommen erfolglos geblieben. Das LSG hat den Beklagten zwar verurteilt, der Klägerin höheres Alg II zu gewähren. Im Hinblick auf die Trinkgelder hat es jedoch ausgeführt, bei ihnen handele es sich um Erwerbseinkommen, das nicht nach § 11a Abs 5 SGB II von der Berücksichtigung ausgenommen sei. Danach sind Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre (Nr 1) oder (Nr 2) soweit sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären. Das LSG führt insoweit insbesondere an, es fehle vorliegend an der seiner Ansicht von § 11a Abs 5 Nr 2 SGB II geforderten Nähebeziehung zwischen Gebendem und Nehmender.

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision macht die Klägerin eine Verletzung des § 11a Abs 5 SGB II geltend.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Landshut - S 11 AS 261/16, 27.09.2017
Bayerisches Landessozialgericht - L 7 AS 755/17, 12.12.2019

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 27/22.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin ist teilweise begründet. Sie hat dem Grunde nach Anspruch auf höheres Alg II für Dezember 2014 bis April 2015. Das zugeflossene Trinkgeld ist bei der Berechnung des Alg II nicht als Einkommen zu berücksichtigen und vom Alg nach dem SGB III sind weitere Absetzungen als vom LSG befunden vorzunehmen.

Nach § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld (oder Geldeswert) abzüglich der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge und mit Ausnahme der in § 11a SGB II genannten Einnahmen. Trinkgeld ist Einkommen in diesem Sinne. Es ist allerdings gleichwohl hier nicht als Einnahme bei der Berechnung des Alg II zugrunde zu legen. Denn es handelt sich bei Trinkgeld um eine nicht zu berücksichtigende Zuwendung iS des § 11a Abs 5 SGB II

Nach § 11a Abs 5 SGB II sind Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre (Nr 1) oder (Nr 2) soweit sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären. Trinkgeld ist hier eine Zuwendung im vorbenannten Sinne; es wird freiwillig und ohne Rechtspflicht gegeben. Der Trinkgeldzahlung lag auch keine vertragliche oder konkludente Vereinbarung zu Grunde, wie zB im Zusammenhang mit einem Austauschvertrag im Sinne einer synallagmatischen Verknüpfung gegenseitiger Verpflichtungen - etwa ein Arbeitsvertrag.

Zwar wäre die Berücksichtigung des Trinkgeldes bei der Berechnung des Alg II nach Auffassung des Senats nicht grob unbillig iS des § 11a Abs 5 Nr 1 SGB II. Letzteres ist nur dann der Fall, wenn die Berücksichtigung des zugewendeten Betrages – ohne Rücksicht auf dessen Höhe – nicht akzeptabel wäre und die Zuwendung erkennbar nicht auch zur Deckung des physischen Existenzminimums verwendet werden soll. Vorausgesetzt wird dabei, dass ein anderer objektivierbarer Zuwendungszweck gegeben ist, der konterkariert würde, wenn die Zuwendung zugleich zur Sicherung des Lebensunterhalts eingesetzt werden müsste. Dies ist beim Trinkgeld nicht der Fall.

Allerdings beeinflusst die Trinkgeldgabe im vorliegenden Fall die Lage der Klägerin nicht so günstig iS des § 11 Abs 5 Nr 2 SGB II, dass daneben die Erbringung von Alg II nicht mehr gerechtfertigt wäre. Anders als bei der Regelung in § 11a Abs 5 Nr 1 SGB II stellt § 11a Abs 5 Nr 2 SGB II maßgeblich auf die Höhe der Zuwendung ab. Es soll eine Überkompensation der bestehenden Notlage durch das Zusammentreffen einer Zuwendung mit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Gestalt vermieden werden, dass zumindest ein Teil des Alg II nicht mehr zur Bedarfsdeckung benötigt wird. Ob dies der Fall ist, fordert eine wertende Entscheidung. Ausgangspunkt ist die Höhe der Zuwendung im Verhältnis zum Regelbedarf. Insoweit gilt es zu prüfen, ob die Nichtberücksichtigung der Zuwendung angesichts ihrer Höhe dem Nachranggrundsatz der SGB II-Leistungen (§ 2 Abs 2 SGB II) zuwiderlaufen würde. Dies ist regelmäßig dann nicht der Fall, wenn die Zuwendung 10% des maßgebenden Regelbedarfs nicht übersteigt. Diese Grenze wahrt den Abstand zu den Freibetragsregelungen des SGB II, die insbesondere mit der Erzielung von Erwerbseinkommen verbunden sind, und hält sich auch in dem Rahmen, in dem umgekehrt belastende Minderungen des Regelbedarfs von Leistungsberechtigten hinzunehmen sein können. Etwas anderes gilt nur dann, wenn besondere Umstände des Einzelfalls eine abweichende Beurteilung rechtfertigen, was hier keiner weiteren Prüfung bedurfte, da das monatliche Trinkgeld (nur) 25 Euro betrug.

Für die abschließende Berechnung der Ansprüche der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum ist abweichend von der Auffassung des LSG, aber in Übereinstimmung mit dem Beklagten, die Summe aller Absetzpositionen nach § 11b Abs 1 SGB II und der Alg II-VO, die das zu berücksichtigende Einkommen aus Erwerbstätigkeit bzw den Erwerbstätigengrundfreibetrag nach § 11b Abs 2 Satz 1 SGB II im Zuflussmonat übersteigt, bedarfsmindernd beim Einkommen aus Alg nach dem SGB III in Abzug zu bringen.

Einen Anspruch auf höhere Leistungen auch im Monat Mai 2015 hat die Klägerin nicht. Der Beklagte hat deutlich niedrigeres Einkommen bei der Berechnung der Leistung berücksichtigt als der Klägerin tatsächlich zugeflossen ist.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 27/22.

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