Bundessozialgericht

Verhandlung B 6 KA 11/21 R

Vertragsarztrecht - vertragsärztliche Versorgung - Nachbesetzung - Arztstelle - Medizinisches Versorgungszentrum - Widerspruchsrücknahme - Fiktion

Verhandlungstermin 07.09.2022 11:30 Uhr

Terminvorschau

MVZ GmbH./. Berufungsausschuss für Ärzte in Thüringen, 7 Beigeladene
Streitig ist, ob Widerspruchsverfahren - die im Zusammenhang mit der Nachbesetzung einer Arztstelle in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) stehen - durch (fiktive) Widerspruchsrücknahme beendet sind.

Die Klägerin ist Trägerin eines MVZ. Sie beantragte im September 2017 die Nachbesetzung der Stelle der angestellten Ärztin B., die etwa fünf Monate zuvor zugunsten der Anstellung auf ihre Zulassung verzichtet hatte. Der Zulassungsausschuss lehnte den Antrag auf Nachbesetzung mit der Begründung ab, dass die Ärztin B. nach dem Verzicht auf ihre Zulassung weniger als drei Jahre in dem MVZ tätig gewesen sei und entschied zudem mit gesonderten Bescheiden, dass die Genehmigung zur Beschäftigung der B. sowie der Versorgungsauftrag endeten. Nachdem die Klägerin gegen diese Bescheide Widerspruch eingelegt hatte, forderte der beklagte Berufungsausschuss die Klägerin zur Entrichtung einer Verwaltungsgebühr von jeweils 200 Euro bis zum 5.4.2018 auf und wies darauf hin, dass Widersprüche gemäß § 45 Abs 1 Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) als zurückgenommen gelten, wenn die genannten Gebühren nicht innerhalb der gesetzten Frist entrichtet seien. Die entsprechenden Überweisungen gingen am 9.4.2018 auf dem Empfängerkonto ein.

Der Beklagte stellte daraufhin fest, dass die Widersprüche gegen die Bescheide des Zulassungsausschusses gemäß § 45 Abs 1 Ärzte-ZV als zurückgenommen gelten, da die Zahlungsfrist nicht eingehalten sei. Den Antrag der Klägerin auf (rückwirkende) Verlängerung der Frist nach § 26 Abs 7 SGB X, den diese damit begründet hatte, dass sie die Überweisungen erstmals fristgerecht am 2.4.2018 vorgenommen habe, diese jedoch trotz entsprechender Überweisungsbestätigung der Bank wegen fehlender Deckung des Kontos nicht ausgeführt worden seien, lehnte der Beklagte ab. Die an die Versäumung anknüpfende Rücknahmefiktion des Widerspruchs stelle keine unbillige, sondern die hierfür vorgesehene Rechtsfolge dar.

Das SG hat die og Beschlüsse des Beklagten aufgehoben und diesen verurteilt, über die Widersprüche der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Für die in § 45 Abs 1 Satz 1 Ärzte-ZV geregelte Widerspruchsrücknahmefiktion fehle eine wirksame Ermächtigungsgrundlage iS von Art 80 GG. In Betracht komme allein § 98 Abs 2 Nr 3 SGB V, wonach die Zulassungsverordnungen Vorschriften über das Verfahren der Ausschüsse entsprechend den Grundsätzen des Vorverfahrens in der Sozialgerichtsbarkeit enthalten müssten. § 45 Abs 1 Satz 1 Ärzte-ZV halte sich jedoch nicht im Rahmen dieser Ermächtigung. Es werde eine über § 84 Abs 1 Satz 1 SGG hinausgehende "weitere Prozess(Sachurteils)voraussetzung" für die sozialgerichtliche Klage geschaffen, die entgegen den Regelungen für das Vorverfahren im SGG den Zugang zu den Sozialgerichten erschwere.

Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Revision und rügt eine Verletzung von § 62 SGB X. Das Vorverfahren in Angelegenheiten des vertragsärztlichen Zulassungsrechts sei als Vorverfahren eigener Art ausgestaltet. Dies folge bereits aus § 97 Abs 3 und 4 SGB V. Nur vor diesem Hintergrund sei auch die einschlägige Ermächtigungsgrundlage des § 98 Abs 2 Nr 3 SGB V zu verstehen. Diese enthalte ein Gebot, welche Mindestanforderungen das besondere Vorverfahren zwingend enthalten müsse, ohne jedoch die Art und Weise abschließend zu regeln. Dies gebiete eine Orientierung an den Verfahrensregeln der §§ 77 ff SGG, erlaube aber zugleich Abweichungen in Einzelpunkten, soweit sie sachlich-gerechtfertigt seien. Bei § 45 Abs 1 Satz 1 Ärzte-ZV handele es sich um eine solche zulässige Sonderregelung. Der Rechtsschutz werde durch diese Rücknahmefiktion auch nicht in unzulässiger Weise erschwert.

Vorinstanz:
Sozialgericht Gotha - S 2 KA 2702/18, 03.02.2021 

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 33/22.

Terminbericht

Die Revision des beklagten Berufungsausschusses ist ohne Erfolg geblieben. Das SG hat die Bescheide des Beklagten revisionsrechtlich beanstandungsfrei aufgehoben. Der Beklagte muss über die Widersprüche der klagenden Trägerin eines Medizinischen Versorgungszentrums in der Sache entscheiden, da die Widersprüche der Klägerin nicht durch fiktive Rücknahme nach § 45 Abs 1 Satz 1 Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) erledigt sind.

Die Ärzte-ZV steht im Rang einer Rechtsverordnung. Daher bedarf es einer den Anforderungen des Art 80 GG entsprechenden hinreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage. Hieran fehlt es für die in § 45 Abs 1 Satz 1 Ärzte-ZV getroffene Regelung der Rücknahmefiktion eines Widerspruchs bei nicht fristgerechter Zahlung der Widerspruchsgebühr. Der gesetzliche Rahmen der allein als relevant in Betracht kommenden Ermächtigungsgrundlage des § 98 Abs 2 Nr 3 SGB V wird überschritten. Danach müssen die Zulassungsverordnungen Vorschriften über das Verfahren der Ausschüsse entsprechend den Grundsätzen des Vorverfahrens in der Sozialgerichtsbarkeit enthalten. Die Rechtsfolge der fingierten Widerspruchsrücknahme entspricht diesen Grundsätzen gerade nicht. Die Vorschrift des § 45 Abs 1 Satz 1 Ärzte-ZV berechtigt den Berufungsausschuss über die im SGG geregelten Vorgaben für das Widerspruchsverfahren hinaus, bei nicht fristgerechter Einzahlung der Widerspruchsgebühr den Widerspruch als fingiert zurückgenommen zu behandeln, selbst wenn es um grundrechtsintensive Entscheidungen in Zulassungssachen geht. Regelungen, die den effektiven Rechtsschutz derart gravierend beschränken, bedürfen einer klaren und bestimmten gesetzlichen Grundlage, an der es nach derzeitiger Rechtslage fehlt. Zwar sieht das SGG eine fiktive Klage- bzw Berufungsrücknahme vor, wenn Kläger das Verfahren trotz gerichtlicher Aufforderung länger als drei Monate nicht betreiben. Bei diesen Rücknahmefiktionen handelt es sich aber um eng begrenzte gesetzlich geregelte Ausnahmefälle, die nicht auf das Widerspruchsverfahren übertragen werden können. Etwas anderes folgt auch nicht aus den Besonderheiten des Verfahrens vor dem Berufungsausschuss. Auch wenn das Vorverfahren in Angelegenheiten des Vertragsarztrechts ein besonderes Verwaltungsverfahren ist und nach § 97 Abs 3 SGB V gegenüber dem Vorverfahren des SGG Besonderheiten aufweist, schafft § 98 Abs 2 Nr 3 SGB V keine umfassende Kompetenz zur Regelung vom sozialgerichtlichen Vorverfahren abweichender Vorschriften und erlaubt insbesondere keine Regelung, durch die die Gewährleistung umfassenden Rechtsschutzes iS des Art 19 Abs 4 GG erheblich eingeschränkt wird.

Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 33/22.

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