Bundessozialgericht

Verhandlung B 1 KR 19/22 R

Krankenversicherung - Arzneimittelversorgung - Cannabis

Verhandlungstermin 10.11.2022 10:00 Uhr

Terminvorschau

S. L. ./. AOK Baden-Württemberg
Streitig ist die Versorgung mit Cannabisblüten.

Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte, 1973 geborene Klägerin beantragte im März 2020 unter Vorlage eines ärztlichen Attestes ihres behandelnden Vertragsarztes die Versorgung mit Cannabis. Sie leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Migräne mit Aura, einer chronischen Schmerzkrankheit, einem Stress-Syndrom, einer kombinierten depressiven Störung und Angststörung, einer Schlafstörung, Dysmenorrhö und Hyperhidrosis. Die Multimorbidität begründe den Schweregrad der Erkrankung der Klägerin. Der bisher anerkannte Grad der Behinderung sei mit 30 viel zu gering bemessen. Zur Medikation nehme sie Cannabis. Sie habe schon verschiedene Therapien durchgeführt, eine nachhaltige Wirkung sei jedoch ausgeblieben. Auf manche Schmerzmittel entwickle sie Magenschmerzen und ein Reizdarm-Syndrom. Die Beklagte lehnte den Antrag nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ab. Zwar liege eine schwerwiegende Erkrankung der Klägerin vor, aber es stünden leitliniengerechte Standardtherapien zur Verfügung. Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin eine ergänzende Stellungnahme des behandelnden Arztes vor, der auf die Vielzahl der zur Behandlung der Einzelerkrankungen jeweils erforderlichen chemischen Arzneimittel und ihre Nebenwirkungen verwies. Cannabis sei zu Unrecht als Betäubungsmittel eingeordnet; eine Cannabis-Abhängigkeit gebe es schlichtweg nicht.

Das SG hat die Klage abgewiesen. Es fehle bereits an einer vertragsärztlichen Verordnung auf einem Betäubungsmittelrezept. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Die Voraussetzungen des Anspruchs seien nicht erfüllt, da die Ausführungen des behandelnden Arztes nicht ausreichten. Er habe nicht nachvollziehbar begründet, warum leitliniengerechte Standardtherapien unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustands nicht zur Anwendung kommen könnten. Zudem komme eine Kontraindikation in Betracht, da die Klägerin regelmäßig seit 2001 Cannabis konsumiere, im September 2012 ein Abhängigkeitssyndrom diagnostiziert worden sei und die behandelnden Psychiater die Versorgung mit Cannabis ablehnt hätten.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin einen Verstoß gegen § 31 Abs 6 SGB V.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Mannheim - S 13 KR 2168/20 - 05.01.2021
Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 11 KR 494/21, 11.10.2021

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 43/22.

Terminbericht

Der Senat hat in vier Urteilen die Voraussetzungen der Genehmigung vertragsärztlicher Verordnungen von Cannabisblüten durch die Krankenkassen gemäß § 31 Abs 6 SGB V präzisiert:

1. Für die Erteilung der Genehmigung einer Cannabis-Verordnung reicht es aus, dass der Vertragsarzt der Krankenkasse (KK) den Inhalt der geplanten Verordnung mitteilt oder der Versicherte der KK eine entsprechende Erklärung des Vertragsarztes übermittelt. Dazu gehört (§ 9 Abs 1 Nr 3-5 BtMVV) die Arzneimittelbezeichnung, die Verordnungsmenge und die Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesdosis und Anwendungsform. Die Vorlage einer vom Arzt bereits ausgestellten Verordnung ist nicht erforderlich. Die in § 31 Abs 6 Satz 2 SGB V vorgesehene Genehmigung bedeutet - abweichend vom sonst üblichen Weg der Versorgung mit Arzneimitteln - eine präventive Kontrolle der KK, ob die in Satz 1 benannten Voraussetzungen für einen Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit Cannabis erfüllt sind. Diese Kontrollfunktion kann die KK auch ohne Vorlage einer Verordnung ausüben.

2. Der Anspruch auf Versorgung mit Cannabis besteht nur zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung. Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt.

Lebensqualität umschreibt das Vermögen, die Befriedigung von Grundbedürfnissen selbst zu gewährleisten, soziale Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten sowie am Erwerbs- und Gesellschaftsleben teilzunehmen. Die dauerhafte und nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität ergibt sich deshalb nicht allein aus einer ärztlich gestellten Diagnose. Entscheidend sind Funktionsstörungen und -verluste, Schmerzen, Schwäche und Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens, welche die Lebensqualität beeinträchtigen.

Die Auswirkungen der Krankheit mit den sich aus dieser ergebenden Beeinträchtigungen müssen sich durch ihre Schwere vom Durchschnitt der Erkrankungen abheben. Insoweit hält es der Senat für gerechtfertigt, sich an die Bewertung der Auswirkungen von Krankheiten in der Versorgungsmedizin-Verordnung anzulehnen (Teil 2 der Anlage zu § 2 VersMedV). Entsprechen die Auswirkungen nach der GdS-Tabelle bereits allein ohne Einbezug weiterer Erkrankungen einem GdS von 50, kann im Regelfall von einer schwerwiegenden Erkrankung ausgegangen werden. Dies ist weder im Sinne eines starren Grenzwertes zu verstehen, noch ist eine formelle Feststellung eines GdS oder GdB erforderlich, um einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabis zu begründen.

Erreichen die Auswirkungen nicht die Schwere, die einem Einzel-GdS von 50 vergleichbar sind, ist die Annahme einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Lebensqualität nicht ausgeschlossen. Sie kommt im Einzelfall in Betracht, etwa wenn ihre Auswirkungen aufgrund weiterer Erkrankungen schwerer wiegen oder die Teilhabe am Arbeitsleben oder in einem anderen Bereich besonders einschränken.

Bei multimorbiden Patienten ist auf die Gesamtauswirkungen dieser Erkrankungen abzustellen. Schränken deren sich ggf überschneidende und sich wechselseitig verstärkende Auswirkungen die Lebensqualität in einer einem Einzel-GdS von 50 vergleichbaren Schwere ein, kann grundsätzlich auch vom Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung ausgegangen werden.

3. Die Genehmigung einer Cannabis-Verordnung setzt weiter voraus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung entweder nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nicht zur Anwendung kommen kann.

Eine Standardtherapie steht nicht zur Verfügung (§ 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst a SGB V), (a) wenn es sie generell nicht gibt, (b) sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte diese nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen oder (c) diese trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist.

Sofern eine Standardtherapie zur Verfügung steht, bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs 6 Satz Nr 1 Buchst b SGB V). Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt insoweit eine Einschätzungsprärogative zu. An die begründete Einschätzung sind aber hohe Anforderungen zu stellen. Dies ergibt sich aus der Geltung des BtMG, die durch § 31 Abs 6 SGB V nicht aufgehoben ist, und daraus, dass die Behandlung mit Cannabis im zivilrechtlichen Arzthaftungsrecht eine Neulandmethode darstellt, sowie aus Gründen des Patientenschutzes. Die begründete Einschätzung muss folgendes beinhalten:

-  Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte,

-  Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankung(en), ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels,

-  bereits angewendete Standardbehandlungen, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen,

-  noch verfügbare Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und die zu erwartenden Nebenwirkungen,

-  Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis. In die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen.

KKn und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind, und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative schließt eine weitergehende Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit aus. Dies gilt auch im Fall eines vorbestehenden Suchtmittelkonsums oder einer vorbestehenden Suchtmittelabhängigkeit. Ob dieser Umstand eine Kontraindikation für die Behandlung mit Cannabis darstellt, ist vom Vertragsarzt im jeweiligen Einzelfall abzuwägen und in der begründeten Einschätzung darzulegen. Er hat sich möglichst genaue Kenntnis vom bisherigen Konsumverhalten, möglichen schädlichen Wirkungen des bisherigen Konsums und einer eventuellen Abhängigkeit zu verschaffen. Auf dieser Grundlage unterfällt es seiner Beurteilung, ob eine Kontraindikation vorliegt oder welche Vorkehrungen gegen einen Missbrauch des verordneten Cannabis zu treffen sind.

Der Versicherte hat die begründete Einschätzung beizubringen. Es ist ihm nicht verwehrt, auch im gerichtlichen Verfahren in Reaktion auf die bisherigen Erkenntnisse eine Ergänzung der bisher abgegebenen Einschätzung durch den Vertragsarzt noch vorzulegen. Eine solche Ergänzung kann aber erst ab diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf Genehmigung für die Zukunft begründen.

4. Schließlich setzt der Anspruch voraus, dass durch die Behandlung mit Cannabis eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (Prognose).

Die Erfolgsaussicht muss sich auf die ursächliche Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung oder auf besonders schwere Symptome bzw Auswirkungen der schwerwiegenden Erkrankung oder Erkrankungen beziehen. Besonders schwer sind Symptome bzw Auswirkungen bereits dann, wenn sie das Bild der schwerwiegenden Erkrankung prägen, ohne dass sie selbst einen GdS von 50 erreichen müssen. In der Gesetzesbegründung wird hierzu die Behandlung von Appetitlosigkeit und Übelkeit bei Krebserkrankung mit Chemotherapie als Beispiel genannt.

An die Prognose sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Ausreichend ist, dass im Hinblick auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome nach wissenschaftlichen Maßstäben objektivierbare Erkenntnisse vorliegen, dass die Behandlung im Ergebnis mehr nutzt als schadet. Dies können Unterlagen und Nachweise der Evidenzstufen IV und V (2. Kap § 11 Abs 2 Satz 1 Nr 2 der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses) sein. Dazu gehören auch Fallserien und Einzelfallberichte. Dies gilt ‑ anders als im Rahmen von § 2 Abs 1a SGB V ‑ unabhängig von der Schwere der Erkrankung.

5. Liegen die vorgenannten Tatbestandsvoraussetzungen vor, darf die KK die Genehmigung der Verordnung nur in begründeten Ausnahmefällen verweigern. Hierfür ist sie darlegungs- und beweispflichtig. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative zur Unanwendbarkeit einer Standardtherapie darf hierbei nicht unterlaufen werden. In Betracht kommen deshalb in erster Linie nichtmedizinische Gründe, etwa die unbefugte Weitergabe des verordneten Cannabis an Dritte. Demgegenüber begründen ein Vorkonsum und eine Cannabisabhängigkeit regelmäßig keinen solchen Ausnahmefall.

6. Bei der Auswahl der Darreichungsform und der Verordnungsmenge hat der Vertragsarzt das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten. Insoweit steht ihm keine Einschätzungsprärogative zu. Bei voraussichtlich gleicher Geeignetheit von Cannabisblüten, Cannabisextrakten und Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon besteht nur ein Anspruch auf Versorgung mit dem kostengünstigsten Mittel. Die KK ist berechtigt, trotz Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen die Genehmigung der vom Vertragsarzt beabsichtigten Verordnung zu verweigern und auf eine günstigere, voraussichtlich gleich geeignete Darreichungsform zu verweisen.

Der Senat hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Die Klägerin leidet unter einer Vielzahl von Erkrankungen. Cannabis kann bei Multimorbidität von Patienten auch zur Behandlung mehrerer Erkrankungen oder ihrer Symptome zum Einsatz kommen, die nicht für sich genommen, jedoch in ihrer Kombination schwerwiegend sind. Allein der Hinweis des Vertragsarztes auf die Komplexität eines von Multimorbidität geprägten Krankheitsbildes ersetzt aber nicht die begründete Einschätzung bei der Verordnung von Cannabis. An dieser fehlte es. Die Einschätzung des behandelnden Arztes enthielt keine Darlegung, wann und für welchen Zeitraum mit welchem Erfolg medikamentöse und nicht-medikamentöse Standardtherapien eingesetzt worden sind, welche Nebenwirkungen dabei aufgetreten sind und warum zur Verfügung stehende Standardtherapien auf dieser Basis unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der Klägerin bei ihr nicht anwendbar sind sowie keine hinreichende Auseinandersetzung mit dem Bestehen eines in der Vergangenheit diagnostizierten Abhängigkeitssyndroms.

Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 43/22

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