Bundessozialgericht

Verhandlung B 7/14 AS 11/21 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - ausländische Altersrente - Leistungsausschluss

Verhandlungstermin 08.12.2022 11:00 Uhr

Terminvorschau

I. P. ./. Jobcenter Dessau-Roßlau, beigeladen: Stadt Dessau-Roßlau - Sozialamt -
Umstritten sind die Aufhebung der Bewilligung von Alg II und die Erstattung von insgesamt 48 179,87 Euro.

 Die 1948 geborene Klägerin siedelte im April 2004 von Russland nach Deutschland über. Sie gab im Antrag gegenüber dem beigeladenen Sozialhilfeträger an, bislang von einer Rente gelebt zu haben, verneinte aber Rentenansprüche, Einkommen und Vermögen. Bis August 2004 erhielt sie von diesem Hilfe zum Lebensunterhalt. Zwischenzeitlich bezog die Klägerin Eingliederungsleistungen nach dem SGB III. Von Januar 2005 bis April 2010 bewilligte ihr das beklagte Jobcenter Alg II. Weder im Erstantrag noch in den Fortzahlungsanträgen gab sie diesem gegenüber den laufenden Bezug einer russischen Altersarbeitsrente an. Auf Nachfrage des Beklagten bestätigte die Klägerin den Bezug der russischen Rente. Der Beklagte nahm die Leistungsbewilligungen von Januar 2005 bis April 2010 zurück und forderte die Erstattung der erbrachten Leistungen sowie der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Die Klägerin sei wegen des Bezugs der Rente von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die fehlerhafte Bewilligung sei erfolgt, weil sie zumindest grob fahrlässig falsche und unvollständige Angaben gemacht habe.

Das Sozialgericht hat den Rücknahme- und Erstattungsbescheid aufgehoben, weil die Klägerin auf die Rechtmäßigkeit der Bewilligungsbescheide habe vertrauen dürfen. Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG nach Beiladung des Sozialhilfeträgers das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Im sich anschließenden Revisionsverfahren ist das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache wegen fehlender tatsächlicher Feststellungen zur Rente zurückverwiesen worden (B 14 AS 5/17 R, Urteil vom 7. Dezember 2017).

Das LSG hat im wiedereröffneten Verfahren das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Klägerin sei nach § 7 Abs 4 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil sie eine russische Altersarbeitsrente bezogen habe, die mit einer deutschen Altersrente vergleichbar sei. Sie werde durch einen öffentlichen Träger gewährt, knüpfe an das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze an und habe nach den Vorstellungen des russischen Gesetzgebers die Funktion, den Lebensunterhalt im Alter zu sichern. Das Vertrauen der Klägerin in die Leistungsbewilligung sei nicht schutzwürdig, weil sie die dafür wesentliche Angabe des laufenden Rentenbezugs - trotz bestehender Sprach- und Verständnisprobleme - grob fahrlässig unterlassen habe. Die Rücknahme und Erstattung sei nicht wegen der Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB X ausgeschlossen. Dem allein in Betracht kommenden Erstattungsanspruch des Beklagten gegen den Beigeladenen nach § 105 Abs 1 SGB X stehe jedenfalls § 105 Abs 3 SGB X entgegen, wonach ein Erstattungsanspruch gegen den Sozialhilfeträger erst ab Kenntnis seiner Leistungspflicht bestehe. Dass ein Leistungsantrag nach dem SGB II zugleich auch als Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII zu verstehen sei und dem Sozialhilfeträger die erforderliche Kenntnis iS des § 18 SGB XII verschaffe, sei nicht auf den Erstattungsfall zu übertragen.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Dessau-Roßlau - S 8 AS 2788/10, 12.12.2013
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt - L 4 AS 174/18 ZVW, 26.11.2020

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 46/22.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Der Beklagte hat zu Recht die Bewilligungen von Alg II für Januar 2005 bis April 2010 zurückgenommen und insgesamt 48 179,87 Euro erstattet verlangt.

Die Bewilligung von Alg II war von Anfang an rechtswidrig erfolgt. Denn die Klägerin war wegen des Bezugs einer russischen Altersarbeitsrente nach § 7 Abs 4 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die ihr gewährte Rente ist nach den den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG zum ausländischen Recht  einer deutschen Altersrente vergleichbar.

Schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin stand der Aufhebung der Leistungsbewilligungen nicht entgegen. Diese beruhten nach den revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Feststellungen des LSG auch im vorliegenden Verfahren auf Angaben, die die Klägerin grob fahrlässig unrichtig bzw unvollständig gemacht hat. Durchgreifende Revisionsrügen sind insoweit nicht erhoben worden. Die Klägerin hat in keinem der Anträge auf Bewilligung von Alg II den Bezug der Altersrente angegeben. Schlechte deutsche Sprachkenntnisse hindern den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ebenso wenig wie die Angabe einer Rente vor der Ausreise im Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland bzw ihre Angabe gegenüber dem Sozialhilfeträger, sie habe bislang von Rente ihren Lebensunterhalt bestritten.

Schließlich steht der Rücknahme der Bewilligungsbescheide und der Erstattung auf Grundlage des § 50 SGB X auch im vorliegenden Fall nicht die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB X entgegen. Dem auch hier allein denkbaren Erstattungsanspruch des Jobcenters gegen den beigeladenen Sozialhilfeträger nach § 105 SGB X  steht § 105 Abs 3 SGB X entgegen. Denn an der erforderlichen positiven Kenntnis der Leistungspflicht des Beigeladenen während des streitbefangenen Zeitraums fehlt es bereits deshalb, weil die Klägerin im Jahr 2004 auch gegenüber dem Sozialhilfeträger nicht den laufenden Bezug einer (Alters-)Rente angegeben hatte, die für ihre Zuordnung zum System des SGB XII (und nicht des SGB II) maßgeblich gewesen war. Allein die Angabe, sie habe vor Beantragung der Sozialhilfe von einer Rente gelebt, verschaffte dem Sozialhilfeträger die erforderliche positive Kenntnis nicht.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 46/22

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