Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 14/21 R

Krankenversicherung - Arzneimittel - Direktvertrieb - Erstattungsbetragsfestsetzung - Schiedsverfahren

Verhandlungstermin 22.02.2023 13:30 Uhr

Terminvorschau

G. H. B. GmbH ./. Schiedsstelle nach §130b Absatz 5 SGB V, c/o GKV-Spitzenverband, beigeladen: 1. GKV-Spitzenverband, 2. Gemeinsamer Bundesausschuss
Im Streit steht ein Schiedsspruch über die Festsetzung eines Erstattungsbetrags für ein Arzneimittel sowie der ihm zugrunde liegende Nutzenbewertungsbeschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA).

Die Klägerin ist ein pharmazeutischer Unternehmer und vertreibt das seit 2010 zugelassene Fertigarzneimittel Rapiscan® mit dem Wirkstoff Regadenoson in Deutschland. Dieses ist seit 2011 in Deutschland im Verkehr und wird als Diagnostikum zur kurzzeitigen Gefäßerweiterung eingesetzt. 2019 erhielt das Arzneimittel eine Zulassung im neuen Anwendungsgebiet als pharmakologischer Stressauslöser für die Messung der fraktionellen Flussreserve, die 2017 im Verfahren nach § 135 SGB V als neue Methode anerkannt worden war und 2018 Aufnahme im Einheitlichen Bewertungsmaßstab fand. Der zu 2 beigeladene GBA bewertete im Verfahren nach § 35a SGB V den Nutzen des Wirkstoffs im neuen Anwendungsgebiet und ergänzte die Anlage XII der Arzneimittel-Richtlinie um die Feststellung, dass ein Zusatznutzen von Regadenoson (Rapiscan®) gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie “Pharmakologische Stressauslösung nach Maßgabe des Arztes“ als nicht belegt gelte (Beschluss vom 15. August 2019). In den Tragenden Gründen zum Nutzenbewertungsbeschluss führte der GBA unter anderem aus, dass im neuen Anwendungsgebiet keine weiteren Arzneimittel zugelassen seien und die im Off-Label-Use eingesetzten Wirkstoffe Adenosin und Nitroprussid als geeignete Komparatoren angesehen werden könnten.

Nach gescheiterten Verhandlungen zwischen der Klägerin und dem zu 1 beigeladenen GKV-Spitzenverband über eine Erstattungsbetragsvereinbarung rief dieser die beklagte Schiedsstelle an und beantragte die Festsetzung des Vertragsinhalts nach § 130b SGB V zu Regadenoson (Rapiscan®). Die Beklagte setzte auf der Grundlage des Nutzenbewertungsbeschlusses des GBA den Erstattungsbetrag und weitere Vereinbarungsinhalte fest (Schiedsspruch vom 1. Juli 2020, schriftliche Fassung vom 6. Juli 2020).

Das Landessozialgericht hat die Klage, gerichtet auf Aufhebung des Schiedsspruchs und Verpflichtung der Beklagten zur neuen Entscheidung über den Schiedsantrag der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts sowie auf Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtigkeit des Nutzenbewertungsbeschlusses des Beigeladenen zu 2, abgewiesen: Die Voraussetzungen für die Durchführung eines Nutzenbewertungsverfahrens hätten vorgelegen; es handele sich um ein erstattungsfähiges Arzneimittel mit neuem Wirkstoff, das zuvor in das Methodenbewertungsverfahren nicht einbezogen gewesen sei. Der Nutzenbewertungsbeschluss sei weder in formeller noch materiell-rechtlicher Hinsicht zu beanstanden, insbesondere habe der zulassungsrechtliche Solistenstatus von Regadenoson im neuen Anwendungsgebiet hinreichende Beachtung gefunden. Der auf der Grundlage dieses Beschlusses ergangene Schiedsspruch sei ebenfalls rechtmäßig sowohl hinsichtlich des festgesetzten Erstattungsbetrags als auch der festgesetzten weiteren Vertragsinhalte.

Mit ihrer vom Landessozialgericht zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§§ 35a, 130b SGB V). Die Durchführung des Nutzenbewertungsverfahrens sei bereits unstatthaft gewesen, weil das Arzneimittel nur im Direktvertrieb abgegeben werde und der Wirkstoff wegen Ablaufs des Unterlagenschutzes nicht mehr neu sei, auch stehe der Nutzenbewertung das vorangegangene Methodenbewertungsverfahren entgegen. Der Beschluss des GBA sei wegen Verletzung des Gebots des fairen Verfahrens formell rechtswidrig und materiell rechtswidrig wegen unzureichender Berücksichtigung des Solistenstatus von Regadenoson. Der Schiedsspruch sei rechtswidrig, insbesondere wegen der Berücksichtigung von Arzneimitteln im Off-Label-Use als zweckmäßige Vergleichstherapie bei der Festsetzung des Erstattungsbetrags und der Nichtbeachtung der Besonderheiten des Direktvertriebs.

Verfahrensgang:
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, L 28 KR 329/20, 24.09.2021

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Terminbericht

Die Revision der Klägerin war begründet. Zutreffend beanstandet sie den Nutzenbewertungsbeschluss des zu 2 beigeladenen Gemeinsamen Bundesausschusses jedenfalls deshalb als rechtswidrig und daher unwirksam, weil über eine Nutzenbewertung von Rapiscan® wegen dessen Solistenstellung im neuen Anwendungsgebiet nicht zu beschließen war. Mangels Grundlage für eine Erstattungsbetragsfestsetzung ist daher auch der Schiedsspruch der beklagten Schiedsstelle rechtswidrig und aufzuheben.

Nach der maßgebenden Rechtsgrundlage in § 35a Absatz 1 SGB V bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss den Nutzen von erstattungsfähigen Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen, und zwar insbesondere den Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie, des Ausmaßes des Zusatznutzens und seiner therapeutischen Bedeutung. Diese Nutzenbewertung ist nach ihrer weiteren gesetzlichen wie untergesetzlichen Ausformung ausschließlich als eine Zusatznutzenbewertung im Verhältnis zu einer vom Gemeinsamen Bundesausschuss jeweils zu bestimmenden zweckmäßigen Vergleichstherapie angelegt. Das legt schon der weitere Normtext des § 35a SGB V nahe, der von Absatz 1 Satz 1 abgesehen ausschließlich auf Fragen der Nutzenbewertung im Verhältnis zu zweckmäßigen Vergleichstherapien abstellt. Ebenso knüpft der Preisbestimmungsmechanismus im Erstattungsbetragsverfahren nach § 130b SGB V ausschließlich an Nutzenbewertungen an, die im Verhältnis zu einer nach § 35a SGB V und dessen Maßgaben zu bestimmenden Vergleichstherapie vorgenommen worden sind.

Für eine Nutzenbewertung, die mangels einer heranziehbaren Vergleichstherapie im Anwendungsgebiet nicht auf die vergleichende Bewertung eines Zusatznutzens zielen kann, bietet § 35a SGB V in dieser Ausgestaltung im Gefüge des SGB V demgemäß keine Rechtsgrundlage. Über eine Zusatznutzenbewertung ist danach nicht zu beschließen, wenn eine zweckmäßige Vergleichstherapie nicht bestimmt werden kann, weil es sich bei dem Arzneimittel um einen (therapeutischen) Solisten handelt; ein begonnenes Nutzenbewertungsverfahren ist dann zu beenden. Ist für ein Anwendungsgebiet nur ein Arzneimittel zugelassen und kommt als Vergleichstherapie nur eine medikamentöse Therapie in Betracht, kann der zulassungsüberschreitende Einsatz anderer Arzneimittel im sogenannten Off-Label-Use grundsätzlich ebenso nicht als zweckmäßige Vergleichstherapie gegenüber einem Arzneimittel mit - zulassungsrechtlicher - Solistenstellung angesehen werden.

Ausgehend hiervon hält die vom Gemeinsamen Bundesausschuss hier vorgenommene Bestimmung der zweckmäßigen Vergleichstherapie einer gerichtlichen Überprüfung nicht stand, ohne dass es auf weitere gegen die Rechtmäßigkeit des Nutzenbewertungsbeschlusses vorgebrachte Gründe noch ankommt. Zwar hat der Gemeinsame Bundesausschuss in seinem Beschluss keine konkrete Arzneimittelanwendung als zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmt. Jedoch kann die im Beschluss angeführte “pharmakologische Stressauslösung nach Maßgabe des Arztes“ ausweislich der Ausführungen zu den ihn Tragenden Gründe der Sache nach allein auf Wirkstoffe im Off-Label-Use zielen und damit auf eine Vergleichstherapie, die seit der Zulassung von Rapiscan® für das hier im Streit stehende Anwendungsgebiet zur Versorgung gesetzlich Krankenversicherter nicht mehr zum Einsatz kommen konnte. Damit hat der Gemeinsame Bundesausschuss den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum als Normgeber überschritten.

Die Unwirksamkeit des Nutzenbewertungsbeschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses berührt ohne Weiteres den Bestand des Schiedsspruchs der beklagten Schiedsstelle, weil ein rechtswidriger und unwirksamer Nutzenbewertungsbeschluss keine Grundlage für das Erstattungsbetragsverfahren nach § 130b SGB V sein kann. Eine Verpflichtung zu einer erneuten Entscheidung war nicht auszusprechen, weil für eine Erstattungsbetragsfestsetzung ohne Zusatznutzenbewertung gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie als Preisanker kein Raum ist.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 4/23.

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