Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 P 6/23 R

Pflegeversicherung - Entlastungsbetrag - haushaltsnahe Dienstleistungen - landesrechtliche Anerkennung - Corona-Pandemie

Verhandlungstermin 30.08.2023 13:00 Uhr

Terminvorschau

C. Ö. ./. Pflegekasse bei der AOK Bayern - Die Gesundheitskasse 
Im Streit steht die Zahlung eines Entlastungsbetrags für die Inanspruchnahme haushaltsnaher Dienstleistungen nach § 45b SGB XI.

Die 1997 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich pflegeversichert und pflegebedürftig nach dem Pflegegrad 3. Die Beklagte lehnte die Erstattung von Kosten für entlastende Dienstleistungen einer Privatperson (Wohnungsreinigung, Bügeln und Kochen) für September bis Dezember 2020 und Februar bis Mai 2021 ab. Für diese habe keine nach dem Landesrecht erforderliche Anerkennung oder Registrierung vorgelegen, was die Klägerin ihrerseits mit Blick auf die Erleichterungen während der Corona-Pandemie für entbehrlich erachtete.

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht die Berufung zurückgewiesen. Einerseits seien keine nach Landesrecht anerkannten Angebote zur Unterstützung im Alltag in Anspruch genommen worden. Andererseits lägen die Voraussetzungen für eine vereinfachte Inanspruchnahme derartiger Leistungen während der Corona-Pandemie schon aufgrund des Umfangs der Pflegebedürftigkeit der Klägerin nicht vor. Es könne offenbleiben, ob ein pandemiebedingter pflegerischer Versorgungsengpass vorgelegen habe.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin neben der Verletzung von § 150 Absatz 5b Satz 1 SGB XI insbesondere eine solche des allgemeinen Gleichheitssatzes. Artikel 3 Absatz 1 GG gebiete, allen Pflegebedürftigen den Entlastungsbetrag unter den vereinfachten Voraussetzungen zu gewähren. Das Landessozialgericht habe zudem seine Amtsermittlungspflicht verletzt.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Regensburg, S 2 P 144/21, 11.01.2022
Bayerisches Landessozialgericht, L 4 P 7/22, 19.08.2022

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 31/23.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin war erfolglos. Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass der Klägerin ein Entlastungsbetrag für die in Anspruch genommene Haushaltshilfe im streitbefangenen Zeitraum nicht zusteht. Die Sonderregelung wegen des Coronavirus galt für sie schon im Ansatz nicht und nach der dem Grunde nach nicht zu beanstandenden Ausgestaltung der Leistungsvoraussetzungen im Übrigen fehlte es nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des Landessozialgerichts an dem nach Landesrecht erforderlichen Antrag auf Anerkennung oder Registrierung des Angebots der beauftragten Hilfsperson, ohne dass es auf die Maßgeblichkeit der landesrechtlichen Anforderungen im Weiteren ankommt oder Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass für die fehlende Antragstellung eine unzureichende Beratung der beklagten Pflegekasse (mit-)ursächlich geworden sein könnte.

Nach dem auf Betreuungsleistungen für Versicherte mit eingeschränkter Alltagskompetenz zurückgehenden Anspruch nach § 45b Absatz 1 SGB XI steht Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege ein so genannter Entlastungsbetrag von bis zu 125 Euro monatlich zum zweckgebundenen Einsatz unter anderem für die Inanspruchnahme so genannter Angebote zur Unterstützung im Alltag zu, die seit 2017 unter anderem um „Serviceangebote für haushaltsnahe Dienstleistungen“ erweitert worden sind. Angebote zur Unterstützung im Alltag sollen Pflegepersonen entlasten sowie Pflegebedürftigen helfen, möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung zu bleiben und benötigen eine Anerkennung durch die zuständige Behörde nach Maßgabe des nach § 45a Absatz 3 SGB XI erlassenen Landesrechts. Dazu sind die Landesregierungen ermächtigt, durch Rechtsverordnung das Nähere unter anderem über die Anerkennung der Angebote einschließlich der Vorgaben zur regelmäßigen Qualitätssicherung zu bestimmen.

Die Regelung und die Anbindung an das Landesrecht gehen zurück auf den 2002 eingeführten Betreuungsbetrag für Versicherte mit eingeschränkter Alltagskompetenz, der mit der Erweiterung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs 2017 im Entlastungsbetrag nach § 45b SGB XI aufgegangen ist. Er ermöglichte bei einem erheblichen Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung die teilweise Deckung von Aufwendungen unter anderem für niedrigschwellige Betreuungsangebote, die nach Landesrecht anerkannt waren und nach § 45c SGB XI anteilig mit Mitteln der Pflegeversicherung gefördert wurden oder werden konnten. Das sollte Betroffenen und Angehörigen die Möglichkeit eröffnen, neben der Versorgung durch nach dem SGB XI zugelassene Pflegeeinrichtungen auf Unterstützungsangebote insbesondere mit ehrenamtlicher Beteiligung und entsprechend geringerer Kostenbelastung zurückzugreifen, die mit Förderung der Länder entstanden waren und weiter entstehen sollten und ohne deren Ausweitung nach der zugrunde liegenden Einschätzung der steigende Betreuungsbedarf insbesondere bei demenzieller Erkrankung nicht zu decken sein würde. Das hat der Gesetzgeber nach Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs weiterentwickelt zu Entlastungsangeboten für Pflegebedürftige in häuslicher Pflege jeglichen Pflegegrads und jeglicher Ursache von Pflegebedürftigkeit mit einem breiteren Unterstützungsangebot bis hin zu Alltagsbegleitern, Pflegebegleitern und Serviceangeboten für haushaltsnahe Dienstleistungen.

Die dabei beibehaltene Bindung des Leistungsanspruchs an die landesrechtliche Anerkennung des jeweiligen Unterstützungsangebots und die Befugnis, das Nähere durch Rechtsverordnung der Landesregierungen zu bestimmen, ermächtigen die Landesebene verfassungsrechtlich unbedenklich zur Bestimmung von Qualitätsanforderungen an die Angebote zur Unterstützung im Alltag, nicht aber zur näheren materiell-rechtlichen Ausgestaltung des bei deren Inanspruchnahme zu zahlenden Entlastungsbetrags. Schon nach dem allgemeinen Gleichheitssatz wäre der Bundesgesetzgeber gehindert, den Ländern die Entscheidung darüber zu überlassen, für welche der im bundesrechtlichen Katalog des § 45a Absatz 1 Satz 5 SGB XI angeführten Entlastungsangebote Versicherte je nach Wohnsitzland Unterstützung aus Mitteln der sozialen Pflegeversicherung erhalten können und für welche nicht; für ein solches Verständnis bieten Wortlaut und Entstehungsgeschichte indes auch keinerlei Anhalt (vergleiche BT-Drucks 14/6949 Seite 13 „Gleichbehandlung der Versicherten“). Vielmehr versteht sich die Einbeziehung der Länder als eine im Leistungserbringungsrecht der Sozialversicherung gebräuchliche und anerkannte Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen zur Qualitätssicherung; durch den Verweis auf die nach Landesrecht erforderliche Anerkennung der zur Inanspruchnahme von Entlastungsbeträgen berechtigenden Angebote hat der Bundesgesetzgeber die Bestimmung der Anforderungen an deren Qualität für die Landesebene geöffnet. Das erscheint nicht zuletzt deshalb als sachgerecht, als diese Angebote wesentlich auf von den Ländern geförderte Initiativen zu niedrigschwelligen Betreuungsleistungen für Versicherte mit eingeschränkter Alltagskompetenz zurückgehen, deren Entwicklung zu einer leistungsfähigen wohnortnahen Infrastruktur der Verantwortung von Ländern und Kommunen zugeschrieben worden ist. Insoweit spricht auch in Bezug auf die in den Ländern zum Teil sehr unterschiedlich ausgestalteten Anforderungen jedenfalls derzeit nichts dafür, dass der Bundesgesetzgeber im Rahmen seiner Beobachtungspflichten zu Änderungen oder Konkretisierungen der erst vor kurzem neu gestalteten Rechtslage gehalten wäre.

Allerdings reicht die Regelungsbefugnis der Länder zu qualitätssichernden Vorgaben für Angebote zur Unterstützung im Alltag nicht weiter, als es zur Ausgestaltung des bundesrechtlichen Leistungsanspruchs in qualitativer Hinsicht erforderlich erscheinen darf. Schon dem Grunde nach außer Betracht bleiben müssen deshalb dabei versorgungspolitische Erwägungen, wie sie vom Bundesrat in Stellungnahmen zur Ausweitung des Leistungsanspruchs verschiedentlich zum Ausdruck gebracht wurden. Die Vorgaben müssen sich vielmehr messen lassen an den Anforderungen der jeweiligen Unterstützungsleistung und den für sie unter Berücksichtigung der niedrigschwelligen Ausrichtung der Angebote zur Unterstützung im Alltag und ihrer Öffnung auch für nicht professionelle Beteiligte jeweils sachgerecht vorauszusetzenden Fähigkeiten und Kenntnissen, wegen der nach der gesetzlichen Konzeption auf Teilbereiche beschränkbaren Ausgestaltung der Angebote unter Umständen entsprechend beschränkt auf die daraus sich jeweils ergebenden Anforderungen. Gemessen an den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes könnte das insbesondere bei Unterstützungsangeboten im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen Fragen aufwerfen, wenn Versicherte mit einem ersichtlichen Unterstützungsbedarf in diesem Bereich mangels entsprechender nach Landesrecht anerkannter Angebote in erreichbarer Nähe den Entlastungsbetrag nicht in Anspruch nehmen können, obschon eine gemessen an den Anforderungen in ihrer Lage sachgerechte Hilfe zur Verfügung stünde.

Das kann hier indes dahinstehen, weil die von der Klägerin beauftragte Hilfsperson nach den den Senat bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts zum Inhalt des bayerischen Landesrechts und nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des Landessozialgerichts schon den für die landesrechtliche Anerkennung oder Registrierung vorausgesetzten Antrag nicht gestellt hat und ein solches Antragserfordernis unter Qualitätssicherungsgesichtspunkten bundesrechtlich keinen Bedenken unterliegt. Ob die landesrechtlichen Voraussetzungen für die Anerkennung des Angebots zu unterstützenden Hilfen im Haushalt im streitbefangenen Zeitraum den Anforderungen an die Ausgestaltung der Qualitätsvorgaben im Übrigen genügten, bedarf deshalb keiner Entscheidung. Schließlich ist auch nicht zu entscheiden, welche Folgen einem etwaigen Beratungsmangel oder -ausfall zu den Voraussetzungen der Inanspruchnahme des Entlastungsbetrags nach bayerischem Landesrecht zukämen, weil nichts dafür ersichtlich ist, dass die Beklagte hinreichend konkreten Anlass für eine entsprechende Beratung nach den §§ 7, 7a SGB XI gehabt haben könnte.

Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 31/23.

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