Bundessozialgericht

Verhandlung B 7 AS 10/22 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Widerspruchsverfahren - Rechtsbehelfsbelehrung - elektronische Form - fehlende Zugangseröffnung - Jahresfrist

Verhandlungstermin 27.09.2023 11:45 Uhr

Terminvorschau

1. W. K., 2. L. K., 3. M. K., 4. A. K. ./. Jobcenter Kreis Segeberg
Im Streit ist insbesondere die fristgerechte Erhebung eines Widerspruchs gegen einen die Bewilligung von Alg II beziehungsweise Sozialgeld teilweise aufhebenden Bescheid sowie die Erstattung von insgesamt 1690,92 Euro. 

Der Kläger zu 1 ist der Vater der Kläger zu 2 bis 4. Das beklagte Jobcenter bewilligte ihnen (sowie der nicht am Revisionsverfahren beteiligten Mutter und einem weiteren Kind) Alg II beziehungsweise Sozialgeld. Nachdem der Kläger zu 1 eine Arbeit aufgenommen hatte, hob der Beklagte den ursprünglichen Bewilligungsbescheid teilweise auf und forderte überzahlte Leistungen zurück (Bescheide vom 8. Februar 2018). Die Rechtsmittelbelehrung dieser Bescheide verwies auf die Möglichkeit, dagegen schriftlich oder zur Niederschrift Widerspruch einzulegen. Die durch ihre Prozessbevollmächtigte erhobenen Widersprüche vom 27. Dezember 2018 verwarf der Beklagte wegen Verfristung als unzulässig.

Die dagegen erhobenen Klagen waren in beiden Vorinstanzen ohne Erfolg. Die angegriffenen Bescheide seien bestandskräftig. Die Widersprüche seien unzulässig gewesen, weil sie nicht fristgerecht binnen eines Monats nach Bekanntgabe der Bescheide erhoben worden seien. Es gelte nicht die verlängerte Widerspruchsfrist von einem Jahr, denn es liege weder eine unvollständige noch eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung vor. Zwar gehöre seit 1. Januar 2018 zu einer vollständigen Belehrung über die Form des Rechtsbehelfs auch der Hinweis auf die Möglichkeit der elektronischen Einlegung (§ 84 Absatz 1 Satz 1 SGG). Da der Beklagte aber den entsprechenden Zugang bis zum 17. August 2020 noch nicht eröffnet gehabt habe, sei der fehlende Hinweis auf die Möglichkeit der elektronischen Einlegung unschädlich.

Mit ihren vom Landessozialgericht zugelassenen Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung der §§ 84, 66 Absatz 2 SGG in Verbindung mit § 36a SGB I.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Lübeck, S 16 AS 116/19, 16.10.2020
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, L 3 AS 108/20, 20.10.2021

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 38/23.

Terminbericht

Die Revisionen der Kläger waren im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht begründet. Das Landessozialgericht ist zu Unrecht von der Unzulässigkeit des Widerspruchs wegen Verfristung ausgegangen. Die Prüfung, ob der angefochtene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid inhaltlich rechtmäßig war, war dem Senat aufgrund fehlender tatsächlicher Feststellungen des Landessozialgerichts in der Sache aber nicht möglich.

Die Kläger haben gegen den noch allein streitgegenständlichen Bescheid vom 8. Februar 2018 zwar erst am 27. Dezember 2018 Widerspruch eingelegt. Doch war dieser in jedem Fall fristgerecht, weil er binnen der im vorliegenden Verfahren maßgeblichen Frist von einem Jahr nach Bekanntgabe des Bescheids, die jedenfalls nach dem 8. Februar 2018 erfolgt sein muss, erhoben worden ist.

Nach § 84 Absatz 1 Satz 1 SGG in der seit 1. Januar 2018 maßgeblichen Normfassung ist der Widerspruch binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekannt gegeben worden ist, schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Absatz 2 SGB I oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Die Widerspruchsfrist beginnt nur dann zu laufen (§ 84 Absatz 2 Satz 3 in Verbindung mit § 66 Absatz 1 SGG), wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist belehrt worden ist. Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs innerhalb eines Jahres seit Zustellung zulässig (§ 66 Absatz 2 Satz 1 SGG).

Zu den Mindestinhalten einer Rechtsbehelfsbelehrung zählt über den Wortlaut des § 66 Absatz 1 SGG hinaus nach Sinn und Zweck der Regelung auch eine Belehrung über die bei Einlegung eines Rechtsbehelfs zu beachtenden Formvorschriften, wie es der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entspricht.

Über die Möglichkeit, Widerspruch auch in elektronischer Form einlegen zu können, hat das beklagte Jobcenter nicht belehrt. § 84 Absatz 1 SGG führt aber die elektronische Form des Rechtsbehelfs als eigenständige Form neben der Schriftform und der Einlegung zur Niederschrift auf. Die Belehrung im Bescheid vom 8. Februar 2018 war daher unvollständig, so dass die Jahresfrist galt.

Ob der Beklagte im damaligen Zeitpunkt tatsächlich in der Lage war, im Sinne des § 36a Absatz 2 SGB I elektronisch eingelegte Widersprüche zu bearbeiten oder ob dies erst, wie er vorträgt, nach dem 17. August 2020 der Fall war, ist für die Frage der inhaltlichen Anforderungen an eine zutreffende Belehrung ohne rechtliche Bedeutung. Dahin gestellt bleiben kann insoweit, ob er zur Schaffung eines elektronischen Zugangs bereits nach Maßgabe des § 84 Absatz 1 SGG oder Landesrecht (spätestens) zum 1. Januar 2018 verpflichtet gewesen wäre. Denn er hat mit der Angabe einer E-Mailadresse auf dem Kopfbogen des angefochtenen Bescheids den für die Übermittlung eines elektronischen Dokuments erforderlichen Zugang im Sinne des § 36a Absatz 1 SGB I zumindest konkludent eröffnet. Hinweise darauf, dass dies nicht auch für die Einlegung von Widersprüchen gelten soll, enthält der Bescheid nicht. Nichts anderes gilt, wenn dem Beklagten (technische) Möglichkeiten gefehlt haben sollten, bei auf elektronischem Weg eingelegten Widersprüchen die Einhaltung der Formvorgaben des § 36a Absatz 2 SGB I zu prüfen.

Ohne Belang ist zudem, ob vor dem 17. August 2020 eine Kommunikation über ein Elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach möglich war. Das Prozessrecht schreibt dessen Vorhandensein nur für die sichere Übermittlung von Dokumenten an die Gerichte vor, nicht aber das hier maßgebliche Verwaltungsverfahrensrecht für die Kommunikation zwischen Bürger und Behörde. Insoweit genügt die Übersendung einer E-Mail. In diesem Fall ist aber die Verwendung eines elektronischen Dokuments mit einer qualifizierten elektronischen Signatur erforderlich. Ein sicherer Übermittlungsweg ist insoweit nicht vorgeschrieben.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 38/23.

Hinweis zur Verwendung von Cookies

Wir verwenden ausschließlich Sitzungs-Cookies, die für die einwandfreie Funktion unserer Webseite erforderlich sind. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir diese Cookies einsetzen. Unsere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den Link Datenschutz.

OK