Bundessozialgericht

Verhandlung B 8 AY 3/23 R

Asylbewerberleistungsrecht - stationäre psychiatrische Behandlung - Leistungen bei Krankheit - sonstige Leistung zur Sicherung der Gesundheit

Verhandlungstermin 29.02.2024 11:30 Uhr

Terminvorschau

F. M ./. Landkreis Hildesheim

Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger und reiste im Juni 2018 über Italien nach Deutschland ein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Dublin-III-Verfahren zunächst wegen der vorrangigen Zuständigkeit Italiens als unzulässig und nach Ablauf der Überstellungsfrist im April 2019 in der Folge als unbegründet ab. Nach einem Suizidversuch seines Mitbewohners im gemeinsamen Zimmer der Flüchtlingsunterkunft zum Jahreswechsel 2018/2019 stellte sich der Kläger in einem Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge vor, nahm aber an einer ambulanten Stabilisierungsgruppe nicht teil, nachdem der Beklagte seinen Antrag auf Übernahme der Fahrkosten dorthin abgelehnt hatte. Am 19. März 2019 nahm eine psychiatrische Klinik den Kläger wegen des Verdachts auf eine schwere depressive Episode und eine Posttraumatische Belastungsstörung als Notfall auf und behandelte ihn bis zum 23. April 2019 stationär. Die Übernahme der Kosten in Höhe von 8993,96 Euro lehnte der Beklagte ab. Die hiergegen gerichtete Klage hat in beiden Instanzen Erfolg gehabt. Das Landessozialgericht hat zur Begründung ausgeführt, es bestehe auf Grundlage der festgestellten Diagnosen ein Anspruch auf Übernahme der Kosten gegen den Beklagten, wobei dahin stehen könne, ob eine „akute Krankheit“ im Sinne des § 4 Absatz 1 Satz 1 Asylbewerberleistungsgesetz vorgelegen habe. Jedenfalls sei die stationäre Behandlung des Klägers als sonstige Leistung zur Sicherung der Gesundheit im Sinne des § 6 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz unerlässlich gewesen.

Mit seiner Revision rügt der Beklagte einen Verstoß gegen § 4 und § 6 Asylbewerberleistungsgesetz.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Hildesheim S 42 AY 102/19, 23.04.2020
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 8 AY 46/20, 06.10.2022

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 4/24.

Terminbericht

Der Senat hat die Revision des Beklagten zurückgewiesen. Das Landessozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass dem Kläger gegen den Beklagten ein Freistellungsanspruch wegen der stationären Krankenhausbehandlung in Höhe von 8993,96 Euro nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zusteht. § 4 Absatz 1 Satz 1 Asylbewerberleistungsgesetz sieht Leistungen bei einer “akuten Erkrankung“ vor. Eine akute Erkrankung besteht bei einem im Augenblick herrschenden, plötzlich aufgetretenen regelwidrigen, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der behandlungsbedürftig ist. Vom Begriff der akuten Erkrankung ist auch ein Gesundheitszustand erfasst, der bei bereits bestehenden (gegebenenfalls chronischen) Erkrankungen eine Behandlung aus medizinischen Gründen unaufschiebbar werden lässt, um eine unumkehrbare oder akute Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder ein kritisches Stadium zu verhindern. Voraussetzung ist dabei allerdings, dass die Behandlung im Einzelfall in der perspektivisch verbleibenden Zeit des Aufenthalts in Deutschland abgeschlossen werden kann oder - im Fall einer dauerhaften Therapie - zur Abwendung einer unumkehrbaren oder akuten Verschlechterung notwendig bleibt. Daneben besteht ein Anspruch auf Leistungen bei einer Krankheit immer, wenn ein Schmerzzustand behandelt werden muss. Diese Auslegung entspricht der gesetzgeberischen Zielsetzung, auch für Personen mit nur begrenzter Aufenthaltsperspektive eine menschenwürdige Existenz zu sichern.

Diese Voraussetzungen einer akuten Erkrankung lagen sowohl bei Aufnahme als auch während der vierwöchigen stationären Behandlung vor. Die Richtigkeit der Feststellungen des Landessozialgerichts zum medizinischen Sachverhalt bezweifelt der Beklagte zwar. Er hat die Feststellungen aber nicht mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffen; sie binden den Senat. Danach ist der Kläger als Notfall wegen Verdachts auf eine schwere depressive Episode sowie einer Posttraumatischen Belastungsstörung stationär aufgenommen worden. Die vom Landessozialgericht weiter festgestellten bei der Aufnahme und in der Folge bestehenden Symptome des Klägers decken sich mit den entsprechenden Beschreibungen der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10 F32.2 beziehungsweise ICD-10 F 43.1). Auf dieser Grundlage ist die Würdigung des Landessozialgerichts, auch die vierwöchige stationäre Behandlung des Klägers sei notwendig gewesen, um den Eintritt eines kritischen Stadiums der Erkrankung zu verhindern und/oder eine Eigengefährdung auszuschließen, nicht zu beanstanden. Bei beiden Verdachtsdiagnosen und aufgrund der festgestellten Symptome war eine vollstationäre Behandlung indiziert. Dies ist unter anderem bei schweren psychosozialen Belastungen und fehlenden Bezugspersonen der Fall, wenn keine weitere Möglichkeit sozialer Unterstützung im ambulanten Setting zur Verfügung steht. Solche ambulanten Unterstützungsangebote konnte der Kläger nicht in Anspruch nehmen, schon weil der Beklagte zuvor die hierfür notwendigen Fahrtkosten abgelehnt hatte.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 4/24.

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