Bundessozialgericht

Verhandlung B 1 KR 40/22 R

Krankenversicherung - Versorgung - Lipoproteinapherese - Apherese-Kommission - Medizinischer Dienst

Verhandlungstermin 16.05.2024 10:00 Uhr

Terminvorschau

H. R. ./. AOK Niedersachsen
Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines Anspruchs der Klägerin auf Versorgung mit einer Lipoproteinapherese für die Zeit von Dezember 2018 bis zum 9. August 2019.

Die 1944 geborene und bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin leidet an einer fortschreitenden koronaren Herzerkrankung, die zu mehreren Dilatationen und Stentimplantationen führte. Ihr behandelnder Facharzt beantragte für sie im Juni 2018 bei der Apherese-Kommission der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen die Durchführung einer Lipoproteinapherese. Die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen teilte der Beklagten mit, dass sie bei der Klägerin die Indikation für eine Apherese-Therapie gestellt habe. Der von der Beklagten mit der Prüfung beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung kam zu einem gegenteiligen Ergebnis. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid gegenüber der Klägerin ab. Auf einen Eilantrag der Klägerin verpflichtete das Sozialgericht die mit ihrer Beschwerde hiergegen erfolglos gebliebene Beklagte zur vorläufigen Erbringung der Apherese bis zum 9. August 2019. In der Folgezeit erbrachte die Beklagte die Apherese unter dem Vorbehalt der Rückforderung bei Obsiegen im Hauptsacheverfahren.

Das Sozialgericht hat die Beklagte nach Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zur unbefristeten Erbringung der Lipoproteinapherese verurteilt. Das Landessozialgericht hat unter Änderung des Tenors des erstinstanzlichen Urteils festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet gewesen sei, die Klägerin im Zeitraum vom Dezember 2018 bis zum 9. August 2019 mit einer Lipoproteinapherese zu versorgen. Zwar komme dem (positiven) Votum der Apherese-Kommission keine rechtliche Bindungswirkung gegenüber der Beklagten zu. Krankenkassen könnten nach zulässiger Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung gegenüber ihren Versicherten anders entscheiden als die Kommission. Allerdings sei die besondere fachliche Kompetenz der Kommission bei der Prüfung der Indikation in tatsächlicher Hinsicht zu berücksichtigen. Das Votum der Kommission könne nur durch gewichtige Gründe entkräftet werden. Gewichtige Gründe, wie ein fehlerhaft abgelaufenes Beratungsverfahren, lägen nicht vor. Unabhängig hiervon erfülle die Klägerin die Voraussetzungen für eine Lipoproteinapherese.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 3 Absatz 2, § 6 Absatz 3 und § 7 der Ziffer 1 Anlage I MVV-RL, § 275 Absatz 1 SGB V und von § 75 Absatz 2 SGG.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Hannover, S 86 KR 2589/18, 18.09.2018
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, L 16/4 KR 536/19, 15.11.2022

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 16/24.

Terminbericht

Der Senat hat die Revision der Beklagten zurückgewiesen. Das Landessozialgericht hat im Ergebnis zu Recht festgestellt, dass die Klägerin im Zeitraum von Dezember 2018 bis 9. August 2019 Anspruch auf Versorgung mit einer Lipoproteinapherese hatte.

Der Anspruch Versicherter auf Versorgung (§ 27 Absatz 1 Satz 1 SGB V) unterliegt dem Qualitäts- und dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 2 Absatz 1 Satz 3, § 12 Absatz 1 SGB V). In Konkretisierung des Qualitätsgebots hat der Gesetzgeber den Gemeinsamen Bundesausschuss zur Regelung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden einerseits (§ 135 Absatz 1 SGB V) und der Kriterien für die Notwendigkeit und Qualität diagnostischer und therapeutischer Leistungen anderseits (§ 136 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 SGB V) ermächtigt. Mit der Richtlinie zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (MVV-RL) hat der Gemeinsame Bundesausschuss von den Ermächtigungen Gebrauch gemacht und in Anlage I Ziffer 1 MVV-RL die ambulante Durchführung von Apheresen geregelt. Zum Schutz der Versicherten hat der Bundesausschuss neben der besonderen Fachqualifikation des behandelnden Arztes ein gestuftes Verfahren vorgesehen. Auf der ersten Stufe erfolgt die Vorprüfung der Indikation durch die Apherese-Kommission der Kassenärztlichen Vereinigung als sachverständiges Gremium (§ 6 Anlage I Ziffer 1 MVV-RL), während die Krankenkasse auf der zweiten Stufe die Indikation gegebenenfalls erneut überprüfen kann und sodann eine abschließende Leistungsentscheidung gegenüber den Versicherten (§ 7 Anlage I Ziffer 1 MVV-RL) zu treffen hat.

Dabei ist die Beachtung der Einzelheiten des Verfahrens bei der Apherese-Kommission keine Sachentscheidungsvoraussetzung für die Krankenkasse. Die Zuständigkeit der Krankenkasse, den Leistungsanspruch der Versicherten auf eine Apherese-Behandlung zu prüfen, hierzu den Medizinischen Dienst einzuschalten (§ 275 Absatz 1 Satz 1 Halbssatz 2 SGB V) und über den Anspruch abschließend zu entscheiden, wird durch das Beratungsverfahren der Apherese-Kommission nicht eingeschränkt. Für die dem Gemeinsamen Bundesausschuss obliegende Qualitätssicherung ist eine Beschränkung der Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis der Krankenkasse nicht notwendig. Sie ist ohne eine ausdrückliche Regelung des Gesetzgebers, an der es hier fehlt, auch nicht möglich. Eine Bindungswirkung des Votums der Apherese-Kommission gegenüber der abschließend entscheidenden Krankenkasse ergibt sich weder aus dem Wortlaut der zugrundeliegenden Vorschriften, noch aus systematischen, entstehungsgeschichtlichen und teleologischen Gründen. Bei Annahme einer Bindungswirkung würde der Kommission ein nur sehr eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zugebilligt. Im Falle eines negativen Votums träte dann eine - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung mit Artikel 19 Absatz 4 GG unvereinbare - Beschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten der Versicherten ein. Mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung durch die Gerichte (§ 128 SGG) ist es überdies nicht zu vereinbaren, dass einem Votum der Apherese-Kommission bei der Tatsachenfeststellung ein höheres Gewicht als einem Gutachten des Medizinischen Dienstes beigemessen werden soll - wie es das Landessozialgericht angenommen hat.

Die medizinischen Voraussetzungen für eine Apherese-Behandlung (§ 3 Absatz 2 und § 1 Absatz 2 Anlage I Ziffer 1 MVV-RL) lagen bei der Klägerin nach den nicht mit durchgreifenden Rügen angegriffenen Feststellungen des Landessozialgerichts im streitbefangenen Zeitraum vor.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 16/24.

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