Verhandlung B 9 SB 2/24 R
Schwerbehindertenrecht - Grad der Behinderung - Diabetes Mellitus Typ 1 - Kind
Verhandlungstermin
12.12.2024 11:30 Uhr
Terminvorschau
E. T. ./. Land Niedersachsen
Die 2010 geborene Klägerin begehrt die Feststellung eines Grads der Behinderung von mindestens 50 wegen ihres Diabetes Typ I.
Der Beklagte stellte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 40 und die Voraussetzungen für das Merkzeichen H (Hilflosigkeit) ab Antragstellung im April 2020 fest.
Das Sozialgericht hat das beklagte Land verurteilt, den Grad der Behinderung der Klägerin mit 50 festzustellen. Bei ihr bestünden über den Therapieaufwand hinaus erhebliche Einschnitte, die ihre Lebensführung gravierend beeinträchtigten. Sie müsse zur sachgerechten Durchführung der Therapie und zur Abwendung von Gefahren deutlich mehr begleitet, beobachtet und betreut werden, als es ihrem Alter entspreche. Die Klägerin könne sich wesentliche Lebensbereiche daher nur mit engmaschiger Hilfe erschließen, was eine ausgeprägte Teilnahmebeeinträchtigung bewirke.
Auf die Berufung des beklagten Landes hat das Landessozialgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Klägerin sei nicht durch erhebliche Einschnitte gravierend in ihrer Lebensführung beeinträchtigt. Schwere hypoglykämische Entgleisungen (Unterzuckerungen) mit erforderlicher Fremdhilfe hätten sich ebenso wenig ergeben wie nennenswerte Zeiten von Arbeitsunfähigkeit, stationärer Behandlungsbedürftigkeit oder Folgeschäden an anderen Organen. Auch eine stärker erforderliche elterliche Überwachung und Begleitung aufgrund einer Behinderung beeinträchtige die Lebensführung von Kindern nicht gravierend, sofern dies keine schwerwiegenden weiteren psychischen oder sozialen Konsequenzen für den betroffenen jungen Menschen habe. Beim elterlichen Hilfebedarf handele es sich letztlich um ein Element des durch das Lebensalter modifizierten allgemeinen Therapieaufwands.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung der Bestimmungen über die Bewertung des Grads der Behinderung von Diabetes in Teil B Nummer 15.1 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung - Anlage Versorgungsmedizinische Grundsätze. Das Berufungsgericht habe die individuellen Umstände ihres gesteigerten Fremdhilfebedarfs sowie ihrer psychischen und sozialen Entwicklung unzutreffend festgestellt und bei der Prüfung, ob sie durch erhebliche Einschnitte gravierend in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sei, einen unzutreffenden Vergleichsmaßstab zugrunde gelegt. Zudem habe das Landessozialgericht zu Unrecht negative Auswirkungen im Rahmen besonderer, aber für das Lebensalter typischer Fähigkeiten, hier etwa bezogen auf das Betreiben des Vielseitigkeitsreitens als Leistungssport, außer Acht gelassen. Schließlich sei es auch rechtswidrig, bei einer stärker erforderlichen elterlichen Überwachung und Begleitung aufgrund der Behinderung eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung pauschal auszuschließen.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Osnabrück, S 9 SB 399/20, 27.04.2023
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, L 13 SB 60/23, 14.02.2024
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Terminbericht
Die Revision der Klägerin war ohne Erfolg. Sie hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren Grad der Behinderung als 40 wegen ihres Diabetes mellitus Typ I.
Ihr Diabetes beeinträchtigt die Klägerin nicht durch erhebliche Einschnitte gravierend in ihrer Lebensführung, wie es die Anspruchsgrundlage des § 152 Absatz 1 Satz 1 SGB IX in Verbindung mit Teil B Nummer 15.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze für einen Grad der Behinderung von 50 oder höher aber voraussetzt.
Bei der Einschätzung des Ausmaßes der Behinderung der Klägerin ist das Berufungsgericht im Grundsatz vom richtigen Vergleichsmaßstab ausgegangen. Denn es hat bei der erforderlichen, am Einzelfall orientierten Beurteilung der diabetesbedingten Einschnitte in der Lebensführung die Klägerin als Diabetikerin mit gleichaltrigen, gesunden Kindern in ihrer typischen Lebenssituation verglichen.
Auf dieser Grundlage hat es erhebliche Einschnitte mit gravierenden Folgen für die Lebensführung der Klägerin zutreffend verneint. Schwere Unterzuckerungen mit Fremdhilfebedarf sind bei ihr ebenso wenig aufgetreten wie Folgeschäden an anderen Organen. Der Diabetes der Klägerin brauchte im Verlauf auch nicht stationär behandelt zu werden und hat sie nicht längere Zeit von der Teilnahme am Schulunterricht abgehalten. Darüber hinaus erscheint die psychische und soziale Entwicklung der Klägerin nach den Feststellungen des Landessozialgerichts trotz der Auswirkungen ihres Diabetes als ungefährdet; sie ist ausgesprochen kontaktfreudig, hat viele Freunde und praktiziert Vielseitigkeitsreiten als Leistungssport.
Auch stellt es für sich genommen keinen gravierenden Einschnitt in der Lebensführung der Klägerin dar, dass sie als Kind bei der Therapie ihres Diabetes mellitus im gesteigerten Ausmaß dauerhaft auf Hilfe und Begleitung ihrer Eltern angewiesen ist und ohne diese Unterstützung an ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wesentlich gehindert sein könnte. Denn Hilfe und Begleitung ihrer Eltern haben nach den für den Senat bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts weder die Integrationsfähigkeit noch die psychosoziale Entwicklung der Klägerin beeinträchtigt. Dem damit verbundenen besonderen Aufwand trägt zudem auch das Merkzeichen H (Hilflosigkeit) Rechnung, das bei der Klägerin anerkannt ist und unter anderem dazu berechtigt, einen erhöhten steuerlichen Pauschbetrag geltend zu machen.
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