Bundessozialgericht

Verhandlung B 4 KG 1/24 R

Kinderzuschlag - Einkommen - Haushaltsgemeinschaft - Widerspruchseinlegung - E-Mail - Formunwirksamkeit - Sachentscheidung

Verhandlungstermin 14.05.2025 11:30 Uhr

Terminvorschau

J. V. ./. Bundesagentur für Arbeit
Die Beteiligten streiten über die Folgen per einfacher E-Mail eingelegter, von der beklagten Familienkasse sachlich beschiedener Widersprüche und über (höheren) Kinderzuschlag für Januar bis Juni 2018.

Der 1962 geborene Kläger und seine 1974 geborene Ehefrau haben fünf zwischen 2000 und 2008 geborene Kinder. Der Kläger bezog neben dem Kindergeld eine Rente wegen voller Erwerbsminderung und eine Betriebsrente. Die Familie bewohnte zusammen mit der 1928 geborenen Mutter des Klägers ein im Eigentum der Eheleute stehendes Wohnhaus. Die Beklagte bewilligte Kinderzuschlag für Januar bis April 2018 (Bescheid vom 19. Januar 2018). Der Berechnung legte sie für den Kläger keinen Regelbedarf zugrunde. Der Kläger bat mit E-Mail vom 30. Januar 2018 "um Klärung". Diese E-Mail legte die Beklagte als Widerspruch aus und bestätigte dem Kläger dessen Eingang. Sie hob sodann die Bewilligung für Februar und April vollständig und für März teilweise mit der Begründung auf, die Unterkunftsbedarfe seien niedriger als ursprünglich angenommen (Bescheid vom 6. Februar 2018). Den Widerspruch des Klägers wies sie mit der Begründung zurück, unter Berücksichtigung des Einkommens der Mutter des Klägers ergebe sich schon kein Anspruch auf Kinderzuschlag (Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2018). Aufgrund der Auszahlung eines Nebenkostenguthabens hob die Beklagte die Bewilligung für März 2018 vollständig auf (Bescheid vom 9. März 2018). Von einer Erstattung der Leistungen für den Zeitraum Februar bis April sah sie ab.

Der Kläger hat am 3. April 2018 Klage erhoben. Einen im Mai 2018 gestellten Weiterbewilligungsantrag hat die Beklagte für Mai bis Juni 2018 mit der Begründung abgelehnt, der Gesamtbedarf sei gedeckt (Bescheid vom 29. Mai 2018). Den wiederum mit E-Mail erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit der Begründung zurück, unter Berücksichtigung des Einkommens der Mutter des Klägers bestehe kein Anspruch auf Kinderzuschlag (Widerspruchsbescheid vom 8. August 2018). Das Sozialgericht hat die Klagen verbunden und abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 30. Juni 2021). Das Landessozialgericht hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kinderzuschlag für Januar bis Juni 2018 ohne die Berücksichtigung von Einkommen der Mutter des Klägers zu gewähren, weil keine Haushaltsgemeinschaft im Sinne des § 9 Absatz 5 SGB II vorliege (Urteil vom 8. Juni 2023).

Mit der vom Bundessozialgericht zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 84 SGG und des § 6a Bundeskindergeldgesetzes. Sie habe im Verwaltungsverfahren aufgrund der abweichenden steuerrechtlichen Rechtslage übersehen, dass ein Widerspruch nicht formwirksam durch E-Mail eingelegt werden könne. Die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach die Sachbescheidung die Verfristung eines Widerspruchs heilen könne, sei nicht auf die Formunwirksamkeit zu übertragen. Im Übrigen liege in der Sache eine Haushaltsgemeinschaft mit der Mutter des Klägers vor, weshalb sie deren Einkommen zu Recht berücksichtigt habe.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Lübeck, S 26 BK 9/18, 30.06.2021
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, L 6 BK 10002/21, 08.06.2023

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 12/25.

Terminbericht

Die Revision des Beklagten ist begründet, soweit das Landessozialgericht die Bescheide vom 19. Januar 2018 und vom 29. Mai 2018 geändert und dem Kläger höheren Kinderzuschlag als darin verfügt zugesprochen hat. Diese Bescheide waren bereits bindend und der gerichtlichen Entscheidung ohne eigene Prüfung zugrunde zu legen, weil der Kläger hiergegen nicht formgerecht Widerspruch erhoben hat. Eine einfache E-Mail genügt hierfür nicht. Der Formmangel ist nicht deshalb unbeachtlich, weil die Beklagte über den Widerspruch in der Sache entschieden hat, anstatt ihn als unzulässig zu verwerfen. Die Sachentscheidung der Widerspruchsbehörde bindet die Gerichte nicht. Die in der Rechtsprechung entwickelte Ausnahme, wonach die Versäumung der Widerspruchsfrist der Zulässigkeit der Klage nicht entgegensteht und der angefochtene Bescheid nicht als bindend anzusehen ist, wenn die Widerspruchsbehörde über einen verspätet eingelegten Widerspruch in der Sache entscheidet, ist auf den Fall der Nichteinhaltung der Formvorschrift nicht übertragbar. Die Formwidrigkeit ist auch nicht aus anderen Gründen unbeachtlich. Insbesondere hat der Kläger weder zu einem anderen Zeitpunkt einen formgerechten Widerspruch erhoben noch ergibt sich ein anderes Ergebnis nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs oder von Treu und Glaube.

Die Revision ist unbegründet, soweit das Landessozialgericht die Änderungsbescheide vom 6. Februar 2018 und vom 9. März 2018 aufgehoben hat. Diese Bescheide waren unabhängig von der Unzulässigkeit des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 19. Januar 2018 kraft Gesetzes Gegenstand des Vorverfahrens und des sich anschließenden Klageverfahrens. Dies eröffnete eine Prüfung in der Sache unter Berücksichtigung der Bindungswirkung des Bescheids vom 19. Januar 2018. Zu Unrecht hat die Beklagte mit dem Argument des Bestehens einer Haushaltsgemeinschaft das Einkommen der Mutter des Klägers berücksichtigt.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 12/25.

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