Verhandlung B 3 KR 13/23 R
Krankenversicherung - Hilfsmittelversorgung - Hörgerät - Überfestbetrag - Freiburger Einsilbertest
Verhandlungstermin
12.06.2025 10:30 Uhr
Terminvorschau
J. T.-B. ./. DAK-Gesundheit
Beigeladene: Deutsche Rentenversicherung Bund
Im Streit steht die Erstattung von Kosten für eine Hörgeräteversorgung über dem Festbetrag.
Die 1952 geborene Klägerin leidet an einer beidseitigen Innenohrschwerhörigkeit. In 2017 beantragte sie zunächst bei dem beigeladenen Rentenversicherungsträger, der den Antrag an die beklagte gesetzliche Krankenkasse der Klägerin weiterleitete, die beidseitige Versorgung mit einem Überfestbetragshörgerät, da sie bei der Testung mehrerer Geräte beim Hörgeräteakustiker nur mit diesem ein ausreichendes Hörvermögen habe erreichen können. Die Beklagte bewilligte ihr nur die Versorgungspauschale, da die vom Hörgeräteakustiker vorgelegten Testberichte für das begehrte Gerät lediglich im Nutzschall ein um 5 %-Punkte besseres Messergebnis nach dem Freiburger Einsilbertest ergeben hätten; bei einem Hörgewinn von unter 10 %-Punkten sei eine Versorgung über dem Festpreis nicht geschuldet.
Die Klägerin schaffte die begehrten Hörgeräte während des Klageverfahrens an.
Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben: Im Freiburger Einsilbertest entspreche eine Abweichung um 5 %-Punkte dem Verstehen eines Wortes; ein entsprechender Unterschied im Testergebnis könne von Zufälligkeiten und Tagesform abhängen und sei nicht wesentlich. Subjektive Schilderungen des Hörgeräteträgers seien von Gerichten und Krankenkassen nicht überprüfbar und könnten nicht Grundlage für die Beurteilung sein, welches Hörgerät ausreiche, um die Behinderung auszugleichen.
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin, dass sich aus der Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Hörgeräteversorgung keine bei der Anwendung des Freiburger Sprachtests zu berücksichtigende Messtoleranz ergebe. Der in der Testung mit maximal 5 %-Punkten gemessene Hörvorteil könne auch nicht als unwesentlich vernachlässigt werden; er entspreche bei 20 getesteten Wörtern dem richtigen Verstehen jedes 20. Wortes und stelle damit eine maßgebliche Verbesserung auf dem Weg zu dem erstrebten Gleichziehen mit dem Hörvermögen gesunder Menschen dar.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Bremen, S 62 KR 403/18, 14.04.2022
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, L 4 KR 219/22, 18.01.2023
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Terminbericht
Die Revision der Klägerin war erfolgreich. Die Klägerin hat gegen die Beklagte Anspruch auf Erstattung der Kosten für die selbstbeschaffte Hörgeräteversorgung im Umfang der nicht durch den Festbetrag nach § 36 SGB V gedeckten Kosten.
Nach der Rechtsprechung des Senats, die Eingang in die Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses gefunden hat, haben gesetzlich Krankenversicherte Anspruch auf die Hörgeräteversorgung, die nach dem Stand der Medizintechnik die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen gesunder Menschen erlaubt, soweit dies im Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil bietet. Die Hilfsmittel-Richtlinie sieht für die beidohrige Regelversorgung mit Hörhilfen den Freiburger Einsilbertest im Nutz- und im Störschall als normiertes und standardisiertes Testverfahren zur Indikation und Überprüfung der Hörgeräteversorgung vor, das durch Angaben der Versicherten zu ihrem Hörempfinden ergänzt werden kann.
Ausgehend hiervon zu beanstanden war die Ansicht des Landessozialgerichts, dass der im Freiburger Einsilbertest gemessene Hörzugewinn von 5 %-Punkten unbeachtlich sei und subjektive Wertungen zur Feststellung des Hörvermögens im Alltag von vornherein auszuklammern seien. Jeder unter ordnungsgemäßer Anwendung des Freiburger Einsilbertests gemessene prozentuale Hörzugewinn im Sprachverstehen, der bei Einsatz von Überfestbetragsgeräten im Vergleich zu aufzahlungsfreien Festbetragsgeräten gemessen wird, ist ein relevanter Hörvorteil. Ob aus diesem unter Testbedingungen gemessenen Hörzugewinn auch ein erheblicher Gebrauchsvorteil im Alltag erwächst, der zu einem Versorgungsanspruch Versicherter zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung führt, kann nicht ohne Berücksichtigung ergänzender, subjektiver Wertungen und Eindrücke der Versicherten beurteilt werden. Dazu können nach der Hilfsmittel-Richtlinie der standardisierte APHAB-Fragebogen zur Bestimmung der Hörbehinderung ebenso wie hörrelevante Alltagsangaben und Informationen im Rahmen der Kommunikation mit HNO-Fachärzten oder Hörgeräteakustikern herangezogen werden, die gegebenenfalls durch persönliche Aufzeichnungen der Versicherten, wie zum Beispiel das Führen eines strukturierten Hörtagebuchs, unterstützt werden können.
Auch in Ansehung der bei der Hilfsmittelversorgung gesetzlich Krankenversicherter durch das Wirtschaftlichkeitsgebot gesetzten Grenzen kann dem Versorgungsanspruch nicht generell entgegen gehalten werden, dass ein besserer Komfort des Überfestbetragsgeräts nicht mehr von der Leistungspflicht der Krankenkasse erfasst wird. Soweit der festgestellte Hörvorteil maßgeblich auf den Komfort des Gerätes zurückzuführen ist, handelt es sich nicht um leistungsausschließende Faktoren wie Luxus oder Bequemlichkeit. Denn hörbehinderte Menschen sind nicht vom allgemeinen Fortschritt der Digitalisierung und Technisierung ausgeschlossen, der auch Menschen mit nicht eingeschränktem Hörvermögen vielfältige und zugleich angemessene Erleichterungen im Alltag bringt wie zum Beispiel beim Telefonieren oder Musikhören. Insofern führt der Senat seine Rechtsprechung unter Berücksichtigung dieser Entwicklung fort.
Im Fall der Klägerin hat das Landessozialgericht festgestellt, dass ihrem Antrag ein ausgefüllter Prüfbogen zu verschiedenen Hörsituationen im Alltag in Bezug auf beide Geräte beigefügt war, in dem ein subjektiv besseres Hörempfinden mit dem streitigen Überfestbetragsgerät im Vergleich zu dem aufzahlungsfreien Hörgerät dokumentiert war. Daher war es dem Senat möglich, abschließend über den Kostenerstattungsanspruch der Klägerin selbst zu entscheiden.
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