Verhandlung B 3 P 8/23 R
Pflegeversicherung - Pflegesachleistung - Pflegegeld - Wahlmöglichkeit - Einvernehmen - polnischer Versicherungsträger - deutscher Versicherungsträger
Verhandlungstermin
12.06.2025 13:30 Uhr
Terminvorschau
Z. T. ./. Pflegekasse bei der AOK Rheinland/Hamburg - Die Gesundheitskasse
Die Klägerin begehrt die Zahlung von Pflegegeld anstelle ihr bewilligter Pflegesachleistung.
Die 1936 geborene Klägerin ist polnische Staatsangehörige, lebt in Deutschland und wird von ihrer Tochter gepflegt. Sie bezieht eine Rente nur aus der polnischen Rentenversicherung und ist bei der polnischen Krankenversicherung gemeldet. Nachdem sie der Beklagten mit der S 1-Bescheinigung, erteilt vom polnischen Nationalen Gesundheitsfonds, ihren Anspruch auf Sachleistungen bei Krankheit im Wohnmitgliedstaat nachgewiesen hatte, bewilligte diese ihr ab 19. Juni 2017 Pflegesachleistungen nach dem Pflegegrad 3. Den Antrag, ihr rückwirkend anstelle der Pflegesachleistungen Pflegegeld zu erbringen, lehnte sie ab. Der Antrag der Klägerin auf Überprüfung dieses Ablehnungsbescheids hatte keinen Erfolg.
Das Landessozialgericht hat das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts bestätigt: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Pflegegeld nach dem SGB XI, weil sie nicht zu dem versicherten Personenkreis gehöre. Auch nach der Verordnung (EG) 883/2004 bestehe kein über die Sachleistungsaushilfe hinausgehender Anspruch auf Pflegegeld, weil dieses gemeinschaftsrechtlich den Geldleistungen zugeordnet sei, wofür der Träger der polnischen Krankenversicherung zuständig sei. Unabhängig von der Frage, ob Leistungen nach polnischem Recht mit dem begehrten Pflegegeld vergleichbar seien, vermittelten diese keinen Anspruch gegen die Beklagte. Die unterschiedliche Behandlung der Klägerin im Verhältnis zu anderen Versicherten beruhe nicht auf ihrer Staatsangehörigkeit, sondern sei allein Folge davon, dass sie bei einem polnischen Versicherungsträger gegen das Risiko der Krankheit und Pflegebedürftigkeit versichert sei und ihren ständigen Aufenthalt nicht in Polen habe. Eine Fallgestaltung der Geldleistungsaushilfe im Sinne der Verordnung (EG) 883/2004, in der Pflegegeld nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht werde, liege nicht vor, weil es an einem Einvernehmen der Beklagten mit dem polnischen Träger fehle.
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von Artikel 4, 17 und 21 der Verordnung (EG) 883/2004. Bei dem Pflegegeld handele es sich um eine finanzielle Leistung, die den Sachleistungen im Sinne der Verordnung (EG) 883/2004 zuzuordnen sei. Das Wahlrecht des Versicherten zwischen Sachleistung und Pflegegeld werde unterlaufen, wenn zwei Träger zuständig seien, die zur Herstellung eines Einvernehmens über das Pflegegeld nicht in der Lage seien. Die Ablehnung von Pflegegeld verletze ihren Anspruch auf Gleichbehandlung.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Köln, S 27 P 104/19, 04.12.2020
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, L 5 P 14/21, 08.12.2022
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 17/25.
Terminbericht
Die Revision der Klägerin war erfolglos. Das Landessozialgericht hat den Anspruch auf Pflegegeld im Überprüfungsverfahren zu Recht verneint.
Ein solcher Anspruch besteht nicht nach den Vorschriften des SGB XI, weil die Klägerin schon nicht Versicherte in der sozialen Pflegeversicherung oder der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Als Bezieherin einer Rente allein aus der polnischen Rentenversicherung war sie vielmehr Mitglied der polnischen Krankenversicherung; dies wird durch die vom polnischen Nationalen Gesundheitsfonds ausgestellte S 1 - Bescheinigung belegt.
Aus dem Unionsrecht kann die Klägerin keinen wahlweisen Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld nach dem SGB XI anstelle ihr bewilligter Pflegesachleistungen ableiten. Die Pflegesachleistungen werden im Wege der sogenannten Sachleistungsaushilfe durch die Beklagte für Rechnung des polnischen Trägers nach den Regeln der Europäischen Koordinierungsverordnung der Systeme der sozialen Sicherheit erbracht (Artikel 24, 35 Verordnung <EG> 883/2004). Zu den Sachleistungen bei Krankheit gehören auch solche bei Pflegebedürftigkeit, wenn solche Leistungen in den EU-Mitgliedstaaten vorgesehen sind.
Als bei einem ausländischen Träger versicherte Person erhält die Klägerin allein Sachleistungen vom aushelfenden Träger am Wohn- oder Aufenthaltsort in den Grenzen und nach den Modalitäten der für den Träger des Wohnorts geltenden Rechtsvorschriften wie solche Personen, die dem System sozialer Sicherung im Wohnmitglied- oder Aufenthaltsstaat angeschlossen sind. Die Sachleistungsaushilfe nach Maßgabe der Verordnung (EG) 883/2004 vermittelt ihr kein Recht, wahlweise das Pflegegeld nach dem SGB XI von der Beklagten zu beanspruchen; insbesondere ist das Pflegegeld nach dem SGB XI nicht als sachleistungsersetzender Kostenerstattungsanspruch konzipiert.
Es würde dem speziellen Kollisionsrecht und der Koordinierung für Pflegesach- und -geldleistungen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten widersprechen, wenn die Sachleistungsaushilfe auf das Pflegegeld nach dem SGB XI erstreckt würde. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Pflegegeld nach dem SGB XI eine Geld- und keine Sachleistung. Während die tatsächliche Erbringung von Pflegesachleistungen kollisionsrechtlich dem Wohn- oder Aufenthaltsort im Wege der Sachleistungsaushilfe zugeordnet wird, werden Pflegegeldleistungen für Rentner dem zuständigen Träger zugeordnet, den zugleich die Kostenerstattung für die Sachleistung trifft (Artikel 34, 29 Verordnung <EG> 883/2004). Das war hier der zuständige Träger Polens und nicht die Beklagte.
Ein Anspruch auf Export von etwaigem Pflegegeld nach Maßgabe des polnischen Rechts könnte kollisionsrechtlich daher nur gegen den die Rente auszahlenden polnischen Träger bestehen (Artikel 29 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 21 Verordnung <EG> 883/2004), wobei es insofern nach den bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts bereits am Einvernehmen zwischen den beiden Trägern für die Erbringung einer etwaigen Pflegegeldleistung für Rechnung des polnischen Trägers mangelt.
Es verstößt nicht gegen das Gleichbehandlungsgebot des Artikels 4 Verordnung (EG) 883/2004, dass die Klägerin kein Wahlrecht auf das Pflegegeld nach dem SGB XI hat. Weder die Personenfreizügigkeit nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union noch die Koordinierungsverordnung garantieren Versicherten, dass die Wahl ihres Wohnsitzes in Bezug auf Leistungen bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit neutral ist. Dies kann unter Anwendung europäischer und nationaler Regelungen für die betroffene Person Vorteile oder Nachteile haben.
Da es im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers liegt, im SGB XI eine Versicherteneigenschaft als tatbestandliche Voraussetzung für Pflegeleistungen vorzusehen, liegt in der Ablehnung von Pflegegeld auch kein Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 GG.
Der Senat war nicht verpflichtet, das Verfahren auszusetzen und dem Europäischen Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vorzulegen. Die im Fall der Klägerin entscheidungserheblichen Fragen des Unionsrechts sind in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hinreichend geklärt.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 17/25.