Verhandlung B 7 AS 19/24 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - vorläufige Bewilligung - prognostizierbares Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit - Aufhebung - Einkommen aus abhängigem Beschäftigungsverhältnis
Verhandlungstermin
16.07.2025 12:45 Uhr
Terminvorschau
J.-P. K. ./. Jobcenter Freiburg
Im Streit stehen im Wesentlichen die Rechtmäßigkeit der Aufhebung einer vorläufigen Bewilligung von Alg II für den Monat November 2020 und die hierauf beruhende Erstattungsforderung gegen den Kläger in Höhe von 919,80 Euro.
Der Kläger war selbständig tätig. Wegen der nur prognostizierbaren Einnahmen aus dieser Tätigkeit bewilligte der Beklagte für den Zeitraum vom 1. Juli 2020 bis 31. Dezember 2020 Alg II vorläufig.
Am 6. Oktober 2020 nahm der Kläger eine abhängige Beschäftigung auf; das Beschäftigungsverhältnis endete noch im November 2020. Das aus diesem Arbeitsverhältnis erzielte Erwerbseinkommen war für das beklagte Jobcenter Anlass, im Januar 2021 die vorläufige Bewilligung für den Monat November 2020 nach § 48 SGB X vollständig aufzuheben, die Erstattung der erbrachten Leistungen zu verlangen sowie die Aufrechnung der Forderung mit laufenden Leistungen ab dem 1. März 2021 zu erklären. Der Kläger sei nicht hilfebedürftig gewesen.
Die dagegen gerichtete Klage ist in beiden Instanzen ohne Erfolg geblieben. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Landessozialgericht unter anderem ausgeführt, auch eine vorläufige Leistungsbewilligung könne während des laufenden Bewilligungszeitraums nach § 48 Absatz 1 Satz 2 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten des Leistungsberechtigen aufgehoben werden. Dies sei jedenfalls möglich, wenn sich die eintretende Änderung der Verhältnisse nicht auf die Höhe des prognostizierten Einkommens beziehe, welches Grund für die Vorläufigkeit der Bewilligung gewesen sei. Daran sei der Beklagte auch nicht dadurch gehindert gewesen, dass nach § 67 Absatz 4 Satz 2 SGB II der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende abweichend von § 41a Absatz 3 SGB II nur auf Antrag abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch zu entscheiden hatte.
Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 41a, 67 Absatz 4 SGB II und des § 48 SGB X.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Freiburg, S 16 AS 612/21, 29.06.2023
Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 3 AS 2081/23, 21.02.2024
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Terminbericht
Auf die Revision des Klägers hat der Senat die Entscheidungen der Vorinstanzen und des Beklagten aufgehoben. Der Beklagte war nicht berechtigt, seine vorläufigen Bewilligungsentscheidungen mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten des Klägers aufzuheben.
Es kann dahin stehen, ob die verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen unter anderem für die auf § 48 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 und 3 SGB X gestützte Aufhebung des Bescheids vom 7. Oktober 2020 für November 2020 im Zeitpunkt des Erlasses der vorliegend angefochtenen Bescheide vorgelegen haben. Die Aufnahme der Beschäftigung im Oktober beziehungsweise das Fehlen von Hilfebedürftigkeit des Klägers im November 2020 aufgrund des zugeflossenen Erwerbseinkommens berechtigte nicht zur Aufhebung oder Rücknahme des vorläufig bewilligten Arbeitslosengelds II. Als speziellere Regelung für den Ausgleich zu Unrecht erhaltenen Arbeitslosengelds II ist sowohl in den Fällen anfänglicher Rechtswidrigkeit als auch der nachteiligen Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen die abschließende Feststellung des Leistungsanspruchs nach Maßgabe des § 41a Absatz 3 SGB II vorrangig.
Der Wortlaut des § 41a SGB II ist im Hinblick auf die Aufhebung zu Ungunsten der Leistungen beziehenden Person mit Wirkung für die Vergangenheit insoweit offen. Für einen Ausschluss des § 45 Absatz 1 SGB X beziehungsweise § 48 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 bis 4 SGB X - Aufhebung/Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten einer (nicht-)leistungsberechtigten Person - spricht aber neben den Ausführungen im Gesetzentwurf zu § 41a SGB II und der Systematik insbesondere der mit der Regelung verfolgte Sinn und Zweck. § 41a SGB II ist geschaffen worden, um den Widerstreit zwischen einer möglichst zügigen Entscheidung über existenzsichernde Sozialleistungen einerseits und der Notwendigkeit vollständiger Sachverhaltsermittlung andererseits zugunsten einer nur vorläufigen Leistungsbewilligung als “Zwischenregelung“ aufzulösen. § 41a Absatz 3 SGB II sieht daher im Grundsatz deren Ersetzung durch eine abschließende Entscheidung nach Ablauf des Bewilligungszeitraums vor, ohne dass der vorläufigen Entscheidung Bindungswirkung für die abschließende Entscheidung zukäme oder der Leistungsempfänger auf ihren Inhalt vertrauen kann.
An einer abschließenden Feststellung, die nach ständiger Rechtsprechung der zuständigen Senate des Bundessozialgerichts selbst im Fall ihrer Fiktion nach § 41a Absatz 5 Satz 1 SGB II einer Korrektur über die §§ 44 ff SGB X zugänglich wäre, mangelt es im vorliegenden Fall. Eine Umdeutung des rechtswidrigen Aufhebungsbescheids in eine abschließende Entscheidung über den Leistungsanspruch für November 2020 nach Maßgabe des § 41a Absatz 5 Satz 2 Nummer 2 SGB II, der nicht nur in den Fällen der anfänglichen Rechtswidrigkeit einer vorläufigen Bewilligung greift und zum Nichteintritt der Fiktionswirkung führt, scheidet unabhängig von der Frage der einzuhaltenden Fristen aus Sachgründen aus.
Eine abweichende Beurteilung zu dem zuvor dargelegten Regelungskonzept rechtfertigt auch nicht § 67 Absatz 4 Satz 2 SGB II. Danach war für den hier maßgeblichen, bis 31. Dezember 2020 laufenden Bewilligungszeitraum über den monatlichen Leistungsanspruch nur auf Antrag der leistungsberechtigten Person zu entscheiden. An einem solchen Antrag des Klägers fehlt es hier. Gleichwohl wäre der Beklagte - außerhalb der §§ 44 ff SGB X - nicht an einer Korrektur der vorläufigen Leistungsbewilligung im Rahmen einer abschließenden Entscheidung unter Einschluss des Monats November 2020 gehindert gewesen. Denn fehlt es an einem solchen Antrag, gilt das allgemeine Rechtsfolgenkonzept des § 41a Absatz 5 Satz 1 SGB II einerseits, zugleich aber auch die Ausnahme des § 41a Absatz 5 Satz 2 Nummer 2 SGB II. Es erfolgt insoweit keine Modifikation durch § 67 Absatz 4 Satz 2 SGB II.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 21/25.