Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 1/24 R

Krankenversicherung - Hilfsmittelversorgung - Erwachsenendreirad mit Motorunterstützung

Verhandlungstermin 13.11.2025 11:30 Uhr

Terminvorschau

H. H. v. H. ./. AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen
Im Streit steht die Versorgung mit einem Erwachsenendreirad mit Motorunterstützung durch die gesetzliche Krankenversicherung.

Der 1957 geborene, bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger leidet unter einer Tetraspastik mit Ataxie. Ihm sind ein Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen “G“, “aG“, “RF“ und “H“ zuerkannt. Er ist zur Mobilität mit einem Aktivrollstuhl sowie einem Rollator versorgt und nutzt nach eigenen Angaben ein Dreirad ohne Motor sowie einen Personenkraftwagen. Seinen 2017 mit ärztlicher Verordnung und Kostenvoranschlag in Höhe von 7758 Euro gestellten Antrag auf Versorgung mit dem Dreirad “Easy Rider“ mit Elektromotor lehnte die Beklagte ab.

Das Sozialgericht hat die Beklagte nach Einholung eines chirurgischen Sachverständigengutachtens verurteilt, die Kosten für die begehrte Versorgung zu übernehmen. Das Landessozialgericht hat unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des Sozialgerichts die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und ist deren hilfsweise gestellten Beweisanträgen nicht nachgekommen: Die Versorgung des Klägers mit dem begehrten Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich überschreite nicht das Maß des Notwendigen. Ein Aktivrollstuhl mit Restkraftverstärker entspreche nicht seinem Restleistungsvermögen, auf einen Elektrorollstuhl könne er nicht pauschal verwiesen werden. Eine weitere Beweisaufnahme sei nicht erforderlich.

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 33 Absatz 1 in Verbindung mit § 12 SGB V) und formellen Rechts (Amtsermittlungspflicht). Es bestehe die Möglichkeit, eine angemessene Versorgung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung mit wirtschaftlicheren Hilfsmitteln vorzunehmen (Elektrorollstuhl oder nicht motorisiertes Dreirad in Kombination mit einem Rollator), ohne dass dem das Wunsch- und Wahlrecht des Klägers entgegenstehe. Für weitergehende Möglichkeiten der Bewegung durch Einsatz von Hilfsmitteln griffen die Leistungen der Eingliederungshilfe. Ihren Beweisanträgen - zur Frage der ausreichenden Gehfähigkeit des Klägers im Nahbereich unter Zuhilfenahme eines Rollators sowie zu für ihn alternativen Versorgungsmöglichkeiten zur Wahrnehmung seiner selbständigen Mobilität im Nahbereich - sei zu Unrecht nicht gefolgt worden.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Lüneburg, S 41 KR 407/17, 26.05.2021
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, L 4 KR 297/21, 22.05.2023

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 34/25.

Terminbericht

Die Revision war im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht erfolgreich.

Das Berufungsgericht konnte seinen Ermittlungen festzustellender Tatsachen und deren tatrichterlicher Würdigung bezogen auf den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf die Versorgung mit einem motorunterstützten Hilfsmittel zur Mobilität noch nicht die rechtlichen Maßstäbe zugrunde legen, die der Senat zuletzt in seinen Urteilen vom 18. April 2024 in Aufgabe und Weiterentwicklung seiner früheren Rechtsprechung formuliert hat (siehe nur B 3 KR 13/22 R - BSGE 138, 41 = SozR 4-2500 § 33 Nummer 61). Dass sich die Entscheidung des Landessozial-gerichts, obgleich es nicht diese Maßstäbe angewendet hat, aus anderen Gründen als richtig darstellt, und deshalb die Revision der zur begehrten Hilfsmittelversorgung verurteilten Beklagten zurückzuweisen ist, vermag der Senat auf der Grundlage der vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen nicht zu entscheiden.

Nach der genannten neueren Rechtsprechung des Senats ist im Rahmen des Versorgungsziels des mittelbaren Behinderungsausgleichs für das Versorgungsbegehren einer zumutbaren Erschließung des Nahbereichs der Wohnung mit eigener Körperkraft mittels einer motorunterstützten Mobilitätshilfe regelhaft abzustellen auf die konkreten örtlichen Gegebenheiten der wesentlichen Versorgungs- und Gesunderhaltungswege einschließlich von Freizeitwegen im danach anzuerkennenden Nahbereich. Liegt jedenfalls ein wesentlicher Teil der im Alltag anfallenden Versorgungs- und Gesunderhaltungswege nach den konkreten Umständen des Einzelfalls außerhalb der von Fußgängern üblicherweise zurückgelegten Wegstrecke und kann jedenfalls diese Entfernung anders als mit einer motorunterstützten Mobilitätshilfe nicht mehr zumutbar auch mit eigener Körperkraft bewältigt werden, stehen Reichweite und Geschwindigkeit der damit eröffneten Fortbewegung einem Versorgungsanspruch nicht entgegen.

Die Gegebenheiten des Nahbereichs der Wohnung des Klägers sind zu ermitteln, festzustellen und mit Blick auf das Versorgungsbegehren tatrichterlich zu würdigen. In dieser Würdigung ist unter anderem zu berücksichtigen, wie der Kläger diesen zu ermittelnden konkreten Nahbereich mit eigener Körperkraft und unterstützt durch welche Hilfsmittel erschließen kann, was ihm insoweit nach seiner körperlichen Konstitution und seinem Gesundheitszustand (motorische und kognitive Fähigkeiten) sowie nach den topographischen Verhältnissen im Nahbereich der Wohnung hinreichend regelmäßig möglich und zumutbar ist, und ob er, kann er diesen Nahbereich nur mit motorunterstützten Mobilitätshilfsmitteln zumutbar erschließen, das begehrte Hilfsmittel nach seinem Restleistungsvermögen ohne Eigen- und/oder Fremdgefährdung nutzen kann. Zu prüfen ist schließlich auch, ob Umstände des Einzelfalls die begehrte Versorgung als unwirtschaftlich erscheinen lassen, etwa mit Blick auf bereits vorhandene weitere und zur Erschließung des Nahbereichs ausreichende Mobilitätshilfsmittel oder auf in Betracht kommende Versorgungsalternativen zu der begehrten Versorgung, die gleichfalls den Einsatz der eigenen (Rest-)Kräfte ermöglichen.

Auf die Verfahrensrügen der Beklagten kam es danach nicht mehr entscheidungserheblich an.

Kommt im wiedereröffneten Berufungsverfahren als letztlich leistungspflichtig für die als Rehabilitationsleistung begehrte Hilfsmittelversorgung statt der beklagten Krankenkasse der zuständige Träger der Eingliederungshilfe in Betracht, etwa weil das motorunterstützte Mobilitätshilfsmittel weitergehenden Sport- oder Freizeitinteressen zu dienen bestimmt ist, ist dieser Träger vom Landessozialgericht beizuladen (echte notwendige Beiladung).

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 34/25.

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