Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 P 3/24 R

Pflegeversicherung - Pflegeeinrichtung - Kündigung - Versorgungsvertrag - Ermessen - Schadensersatzanspruch

Verhandlungstermin 07.11.2025 00:00 Uhr

Terminvorschau

H. B. ./. Verbände der gesetzlichen Krankenkassen in Niedersachsen
Im Streit steht der Schadensersatzanspruch aufgrund Kündigung eines Versorgungsvertrags.

Der Kläger betrieb seit 1989 eine Pflegeeinrichtung, für die nach Einführung des SGB XI ein Versorgungsvertrag als abgeschlossen galt. Nach Qualitätsprüfungen, die Mängel bezeichneten, kündigten nach Anhörung des Klägers die Verbände der gesetzlichen Pflegekassen in Niedersachsen den Versorgungsvertrag durch Bescheid vom 22. Januar 2007 mit Wirkung zum 31. Januar 2008 gemäß § 74 Absatz 1 SGB XI. Den Betrieb der Pflegeeinrichtung stellte der Kläger ein. Durch von ihm erstrittenes rechtskräftiges Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. Oktober 2014 wurde der Kündigungsbescheid allein aufgrund von Fehlern bei der Ausübung des für die Kündigung des Versorgungsvertrags eingeräumten Ermessens beziehungsweise der Begründung des ausgeübten Ermessens aufgehoben; das Gericht hatte es nach Prüfung letztlich offengelassen, ob wegen Vertragspflichtverletzungen ein Kündigungsgrund vorlag.

Mit seiner hierauf erhobenen Klage begehrt der Kläger von den beklagten Verbänden der gesetzlichen Krankenkassen in Niedersachsen, handelnd für die Landesverbände der Pflegekassen, insbesondere Ersatz des ihm durch die Kündigung des Versorgungsvertrags entstandenen Schadens. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Die sich aus § 61 Satz 2 SGB X in Verbindung mit § 280 BGB ergebenden Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch lägen nicht vor. Ungeachtet der Frage, ob in der Kündigung des Versorgungsvertrags eine Pflichtverletzung gesehen werden könne, könne kein Verschulden (fahrlässiges Vertretenmüssen) angenommen werden. Es begründe keine Sorgfaltspflichtverletzung, wenn im Zeitpunkt der Kündigung irrtümlich davon ausgegangen worden sei, die Kündigung unterliege nicht den Begründungsanforderungen an einen belastenden Ermessensverwaltungsakt; dies habe das Bundessozialgericht erst mit Urteil vom 12. Juni 2008 klarstellend entschieden (B 3 P 2/07 R - BSGE 101, 6 = SozR 4-3300 § 79 Nummer 1). Zudem fehle es am erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen der (unterstellten) Pflichtverletzung und dem vom Kläger geltend gemachten Schaden.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts, insbesondere von § 61 Satz 2 SGB X in Verbindung mit § 280 BGB, sowie formellen Rechts, insbesondere der Amtsermittlungspflicht und des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Mit der bei Kündigung ausgebliebenen Ermessensausübung und -begründung liege eine vertragliche Pflichtverletzung vor. Eine Unkenntnis bei der Kündigung darüber, dass mit ihr nicht nur durch vertragliche Willenserklärung, sondern (auch) durch Ermessensverwaltungsakt gehandelt werde, könne die Beklagten nicht entlasten. Den Kausalzusammenhang der zu vertretenden Pflichtverletzung zum geltend gemachten Schaden und die für dessen Feststellung sowie die für die Schadenshöhe zu beachtenden Darlegungs- und Beweislasten habe das Landessozialgericht rechts- und verfahrensfehlerhaft beurteilt.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Stade, 12 P 26/25, 20.02.2019
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, L 12/15 P 18/19, 24.08.2023

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 34/25.

Terminbericht

Die Revision war erfolglos. Zu Recht haben die Vorinstanzen einen öffentlich-rechtlichen Schadensersatzanspruch des Klägers abgelehnt. Es fehlt bereits an einer vertraglichen Pflichtverletzung als Voraussetzung des geltend gemachten Schadensersatzanspruchs. Auf die Verfahrensrügen des Klägers kam es danach nicht mehr entscheidungserheblich an.

In der Kündigung des Versorgungsvertrags mit dem Kläger durch den Bescheid vom 22. Januar 2007 liegt keine vertragliche Pflichtverletzung der kündigenden Verbände, die einen öffentlich-rechtlichen Schadensersatzanspruch zu begründen vermöchte. An dieser eigenständigen rechtlichen Würdigung ist der Senat nicht dadurch gehindert, dass das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen durch rechtskräftiges Urteil vom 16. Oktober 2014 auf die Anfechtungs-klage des Klägers den Kündigungsbescheid aufgrund von Fehlern bei der Ausübung des für die Kündigung des Versorgungsvertrags eingeräumten Ermessens beziehungsweise der Begründung des ausgeübten Ermessens aufgehoben hat. Allein hieraus folgt keine den Senat im Sinne einer Tatbestandswirkung bindende Feststellung einer vertraglichen Pflichtverletzung im Rahmen der Prüfung eines Schadensersatzanspruchs. Maßgebend für deren Feststellung ist vielmehr, welche vertraglichen Pflichten bei der Kündigung von Versorgungsverträgen durch die Leistungsträger bestehen und ob diese hier verletzt sind; diese Prüfung lässt die rechtskräftige Aufhebung des Bescheids unberührt.

Die ordentliche Kündigung von Versorgungsverträgen durch Landesverbände der Pflegekassen nach § 74 Absatz 1 SGB XI in der im Kündigungszeitpunkt geltenden Fassung stellt nach dem Urteil des Senats vom 12. Juni 2008 (B 3 P 2/07 R - BSGE 101, 6 = SozR 4-3300 § 79 Nummer 1) einen belastenden Verwaltungsakt und nicht lediglich eine öffentlich-rechtliche Willenserklärung dar. Sie ist danach zugleich eine hoheitliche Maßnahme und die Beendigung eines Vertragsverhältnisses, in dem sich die Beteiligten in einem Gleichrangverhältnis gegenüberstehen. Dies bleibt nicht ohne Einfluss auf die Anforderungen an eine Vertragskündigung, die vor diesem Hintergrund nicht einen typischen belastenden Ermessensverwaltungsakt im Über- und Unterordnungsverhältnis darstellt. Nach dem genannten Urteil des Senats verlangt die ordentliche Kündigung eine schwerwiegende, anhaltende Verletzung der vertraglichen Pflichten und Zulassungsvoraussetzungen. Zudem haben die kündigenden Verbände den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot) zu beachten, der verletzt ist, wenn andere, mildere Mittel vorhanden sind, auf Vertragsverletzungen zu reagieren.

Weitergehende Maßgaben für eine über die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hinausgehende Ermessensausübung und Ermessensbegründung bei der Kündigung von Versorgungsverträgen können dem Urteil nicht entnommen werden.

Den genannten Anforderungen genügt die Vertragskündigung hier. Eine schwerwiegende, anhaltende Verletzung der vertraglichen Pflichten und Zulassungsvoraussetzungen durch den Kläger als zur Kündigung berechtigenden Grund nach § 74 Absatz 1 SGB XI entnimmt der Senat den Feststellungen im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. Oktober 2014. Dieses hat den Sachverhalt unter anderem dahin gewürdigt, dass es dem Kläger innerhalb eines Zeitraums von etwa vier Jahren nicht gelungen sei, strukturelle Defizite im Bereich der Dokumentation vielfältiger pflegerelevanter Fakten nachhaltig abzustellen, und dass die eigenen Ausführungen des Klägers dessen Wertung nicht trügen, dass der überwiegende Teil der in einem Prüfbescheid geforderten Maßnahmen umgesetzt worden sei.

Dass die kündigenden Verbände ausgehend hiervon den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinreichend beachtet haben, entnimmt der Senat dem vom Landessozialgericht festgestellten Bescheid vom 22. Januar 2007. In diesem wird die Vornahme einer umfassenden Interessenabwägung und Verhältnismäßigkeitsbewertung dargelegt, nach der in einer Gesamtschau zu dem Ergebnis gekommen worden sei, dass die Pflegeeinrichtung des Klägers die gesetzlichen Anforderungen dauerhaft nicht mehr erfülle. Einer weitergehenden Auseinander-setzung mit der Eignung eines milderen Mittels als der Kündigung bedurfte es nicht, zumal die kündigenden Verbände ausweislich des Bescheids abschließend erwogen haben, vor Ablauf der einjährigen Kündigungsfrist eine Evaluation in der Pflegeeinrichtung durchzuführen, und sich in diesem Rahmen vorbehalten haben, die Kündigung zu überdenken, falls die bekannten Mängel vollständig und dauerhaft behoben sein werden.

Feststellungen des Landessozialgerichts, aus denen sich andere vertragliche Pflichtverletzungen bei der Kündigung ergeben könnten, fehlen; insoweit sind Verfahrensrügen vom Kläger nicht erhoben.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 34/25.

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