Bundessozialgericht

Verhandlung B 7 AS 20/24 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Arbeitslosengeld II - Regelbedarf - Höhe - Einmalzahlung - Preisentwicklung - Preissteigerung - Verfassungsmäßigkeit

Verhandlungstermin 02.12.2025 10:30 Uhr

Terminvorschau

J. M. W. ./. Jobcenter Brandenburg an der Havel
Die Klägerin begehrt höheres Arbeitslosengeld II für die Monate September und Oktober 2022. Die Klägerin wohnte im streitigen Zeitraum mit ihren drei minderjährigen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt - getrennt vom Kindesvater. Mit diesem bestand eine Umgangsregelung, wonach die Kinder an bestimmten Tagen bei ihm lebten. Das beklagte Jobcenter bewilligte der Klägerin und ihren Kindern in Bedarfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Bei den Kindern erkannte es wegen des tageweisen Aufenthaltes beim Kindesvater nur einen anteiligen Regelbedarf an und berücksichtigte Unterhaltsvorschuss und Kindergeld als Einkommen. Bei der Bewilligung für den Monat September 2022 rechnete der Beklagte bei der Klägerin als Einkommen einen sogenannten “Kindergeldüberhang“ an. Für Oktober 2022 bewilligte der Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld II ohne Anrechnung von Einkommen.

Die Klägerin hat geltend gemacht, die der Bewilligung von Arbeitslosengeld II zugrundeliegenden Regelbedarfe seien verfassungswidrig zu niedrig bemessen. Widerspruch, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht hat im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im streitigen Zeitraum insbesondere auf die Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro für Juli 2022 und den ab 1. Januar 2023 geltenden neuen Mechanismus zur Fortschreibung der Regelbedarfe hingewiesen.

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Es bestehe im streitigen Zeitraum infolge der Inflation eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Preisentwicklung. Seit 1. Januar 2021 hätten sich die regelbedarfsrelevanten Preise bis September 2022 um 11,89 Prozent und bis Oktober 2022 um 12,97 Prozent erhöht. Unter Zugrundelegung der tatsächlichen Preissteigerung hätte der Regelbedarf für September 2022 50 Euro und für Oktober 2022 54,81 Euro höher ausfallen müssen. Deshalb seien die Leistungen evident unzureichend, wie auch in der Fachliteratur im Einzelnen ausgeführt und berechnet worden sei. Es mangele an einer verfassungsrechtlich ausreichenden und zeitnahen Reaktion des Gesetzgebers. Mit der Einmalzahlung von 200 Euro für Juli 2022 könne dies nicht ausgeglichen werden. Abgesehen davon handele es sich um eine nicht tragfähig begründete pauschale Leistung allein für den Monat Juli. Der ab 1. Januar 2023 geänderte Regelbedarfsfortschreibungs-mechanismus sei keine geeignete Reaktion. Er erfasse vergangene Zeiträume nicht.

Verfahrensgang:
Sozialgericht Potsdam, S 40 AS 35/23, 16.02.2023
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, L 18 AS 279/23, 18.10.2023

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 37/25.

Terminbericht

Die Klägerin ist mit ihrer Revision erfolglos geblieben. Sie hat nach den einfachgesetzlichen Vorgaben für den Monat Oktober 2022 einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 in Höhe von 449 Euro.

Es bestand kein Anlass, das Verfahren nach Artikel 100 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit der § 20 Absatz 1a SGB II, §§ 28, 28a SGB XII und des Regelbedarfsermittlungsgesetz 2021 in Verbindung mit der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 mit dem Grundgesetz einzuholen. Die Höhe des Regelbedarfs nach der Regelbedarfsstufe 1 ist für das Jahr 2022 nicht in verfassungswidriger Weise zu niedrig bemessen worden. Ein Verstoß gegen Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz liegt nicht vor.

Das Grundgesetz garantiert mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz (Sozialstaatsgebot) ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen-würdigen Existenzminimums. Bei der Ausgestaltung dieses Anspruchs hat der Gesetzgeber im Rahmen seines Entscheidungs- und Gestaltungsspielraums den notwendigen Bedarf wertend einzuschätzen, die Bedarfe zeit- und realitätsgerecht zu erfassen sowie Art und Höhe der Leistungen zu bestimmen. Die so bestimmten Leistungen müssen jedoch tragfähig begründbar sein und das gefundene Ergebnis ist fortwährend zu überprüfen sowie weiterzuentwickeln. Der Gesetzgeber hat Vorkehrungen zu treffen und auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zeitnah zu reagieren, um die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen.

Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs erlaubt, beschränkt sich die materielle Kontrolle der Höhe der Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz in einem ersten Schritt auf die Prüfung, ob die Leistungen evident unzureichend sind. Jenseits dieser Evidenzkontrolle erfolgt die gerichtliche Überprüfung dahingehend, ob Leistungen jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren im Ergebnis zu rechtfertigen, nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründbar sind.

Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist die Höhe des Regelbedarfs der Regelbedarfsstufe 1 für das Jahr 2022 von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

Die Leistungen waren nicht evident unzureichend. Dies gilt auch unter Berücksichtigung eines Kaufkraftverlusts zwischen Dezember 2021 und Dezember 2022 durch Anstieg der regelbedarfsrelevanten Preise. Denn es ist (jedenfalls) bei der Prüfung einer evidenten Unterdeckung nicht allein auf die Regelbedarfssätze, sondern auch auf die weiteren Leistungen des SGB II abzustellen.

In der Methodenwahl zur Ermittlung der Bedarfe und Berechnung der Leistungen ist der Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich frei. Die danach festgesetzten Leistungen müssen aber tragfähig begründbar sein. Dies ist in Bezug auf die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 1a SGB II in Verbindung mit § 28 SGB XII und dem Regelbedarfsermittlungsgesetz 2021 - mit Auswirkungen auf das Jahr 2022 - der Fall. Es war nicht auf alternative Berechnungsmethoden abzustellen. Diese modifizieren lediglich das vom Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums festgelegte und verfassungsrechtlich als solches unbeanstandet gebliebene Vorgehen nach § 28 SGB XII in Verbindung mit dem Regelbedarfsermittlungsgesetz.

Ebenso weichen die Vorgaben zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen für Jahre, in denen keine Neuermittlung erfolgt (§ 28a SGB XII), nicht in unvertretbarer Weise von den Strukturprinzipien der gewählten Ermittlungsmethode ab. Mit der Berücksichtigung der Veränderungsrate aufgrund des sogenannten Mischindexes genügt der Gesetzgeber auch in zeitlicher Hinsicht seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung.

Soweit sich unter anderem aus hohen Preissteigerungen innerhalb kurzer Zeit eine Reaktionspflicht des Gesetzgebers ergeben kann, traf ihn diese Pflicht im Jahr 2021 im Hinblick auf die einsetzende Inflation vorausschauend für das Jahr 2022 noch nicht. Die Veränderungen der Indexwerte, die bei der Fortschreibung zu berücksichtigen waren, lagen unter 1% im Vergleich zum jeweiligen Vorjahresmonat. Der anschließende Anstieg der Veränderungsrate musste den Gesetzgeber nicht zwingend veranlassen, vom Fortschreibungsmechanismus zum 1. Januar 2022 abzuweichen.

Ein solcher Anlass ergab sich erst im Verlaufe des Jahres 2022, insbesondere durch die wirtschaftlichen Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine mit unvermittelt auftretenden, extremen Preissteigerungen. Die regelbedarfsrelevanten Preise in Deutschland stiegen insgesamt um rund 12% an. Der damit einhergehende Kaufkraftverlust führte zu einer Reaktionspflicht des Gesetzgebers. Seine verfassungsrechtliche Pflicht zur zeitnahen Reaktion hat er mit der Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro für Juli 2022 gemäß § 73 SGB II erfüllt, statt auf die nächste Anpassung oder gar Neuermittlung der Regelbedarfe zu warten. Eine solche zeitnahe Reaktion muss sich nicht im Rahmen des Systems der Ermittlung und Fortschreibung der Regelbedarfe vollziehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um die Deckung plötzlich auftretender, prognostisch voraussichtlich nur vorübergehender Bedarfe handelt und davon auszugehen ist, dass eine hohe Inflation bald wieder abflachen wird.

Die zur freien Verfügung der Leistungsberechtigten gestellte Einmalzahlung nach § 73 SGB II in Höhe von 200 Euro deckt auch die regelbedarfsrelevanten Preissteigerungen des ersten Halbjahres 2022 ab. Wäre der Gesetzgeber verpflichtet gewesen, diese Preissteigerungen im System der Regelbedarfe abzubilden, hätte die Differenz zum festgesetzten Regelbedarf rund 85 Euro ausgemacht, mithin weniger als die Einmalzahlung von 200 Euro.

Auf die Preisentwicklung ab der zweiten Hälfte des Jahres 2022 hat der Gesetzgeber ebenfalls in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise reagiert. Er hat bereits im September 2022 Maßnahmen ergriffen, mit Hilfe derer den Preissteigerungen über einen zum 1. Januar 2023 eingeführten veränderten Fortschreibungsmechanismus Rechnung getragen und eine Umsetzung dieser inhaltlichen Änderungen zeitnah in Kraft gesetzt werden sollte. Er hat die Regelbedarfe durch Gesetz um 11,8% auf 502 Euro für die Regelbedarfsstufe 1 erhöht. Dies ist auch sachlich vertretbar. Der monatliche Indexwert der regelbedarfsrelevanten Preise stieg von 108,58 im Juli 2022 auf 115,93 im Dezember 2022, also um circa 6%.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 37/25.

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