Verhandlung B 9 SB 3/24 R
Schwerbehindertenrecht - Grad der Behinderung - Hämophilie - Versorgungsmedizin-Verordnung - Versorgungsmedizinische Grundsätze
Verhandlungstermin
11.12.2025 13:00 Uhr
Terminvorschau
M. A. ./. Land Brandenburg
Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grads der Behinderung (GdB) von 80 ab dem 31. Juli 2018 und von 90 ab dem 25. März 2019.
Der 2017 geborene Kläger leidet an einer schweren Hämophilie A (Störung der Blutgerinnung) mit einer Restaktivität des verbleibenden Blutgerinnungsfaktors von antihämophilem Globulin (AHG) mit weniger als einem Prozent. Auf seinen Erstantrag stellte der Beklagte den GdB mit 30 fest und erkannte das Merkzeichen H (Hilflosigkeit) zu.
Das Sozialgericht hat zunächst ein amtsärztliches Gutachten beigezogen und der Beklagte ein erstes Teilanerkenntnis unter Feststellung eines GdB von 40 ab dem 31. Juli 2018 abgegeben. Auf Nachfrage hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erklärt, dass der Entwurf zur Sechsten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zwar nicht verbindlich sei, aber den aktuellen, international anerkannten Stand zu den dort aufgeführten Gesundheitsstörungen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung enthalte und auf den Empfehlungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beruhe. Nach Einholung einer psychologischen Stellungnahme durch das Sozialgericht hat der Beklagte ein weiteres Teilanerkenntnis unter Feststellung eines GdB von 50 ab dem 10. Juni 2021 aufgrund einer Verhaltensstörung mit Auswirkungen auf die Integrationsfähigkeit in mehreren Lebensbereichen abgegeben.
Das Sozialgericht hat den Beklagten verurteilt, bei dem Kläger ab dem 31. Juli 2018 bis 24. März 2019 einen GdB von 80 und ab dem 25. März 2019 von 90 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen B festzustellen. Das Landessozialgericht hat die Berufung des Beklagten nach Rücknahme der Klage betreffend das Merkzeichen B zurückgewiesen. Der GdB von 80 sei nach Teil B Nummer 16.10 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG), der die GdB-Höhe unabhängig von etwaigen Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich nach dem Grad der Restaktivität des AHG regele und als spezielleres Recht § 152 SGB IX verdränge, am unteren Rand der vorgegebenen Spannbreite angemessen. Ab der Anerkennung der Verhaltens- und emotionalen Störung mit einem GdB von 40 ab dem 25. März 2019 erhöhe sich der Gesamt-GdB auf 90.
Mit der Revision rügt der Beklagte die vom Landessozialgericht vorgenommene Anwendung der Regelungen zur Hämophilie in der VersMedV als Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz, weil behinderte Menschen mit annähernd gleicher Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft einen unterschiedlichen GdB erhielten. Die Teilhabebeeinträchtigung sei auch nach dem Therapieaufwand sowie den Einschnitten in der Lebensführung zu bestimmen. Auch innerhalb von Teil B Nummer 16.10 VMG komme es zu einer Ungleichbehandlung, weil der Gesetzgeber in der mittelschweren Form einen medizinisch notwendigen Therapieaufwand in Form der Behandlung der Blutungsneigung fordere.
Verfahrensgang:
Sozialgericht Neuruppin 26.08.2021, S 40 SB 29/19
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 06.08.2024, L 11 SB 200/21
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 39/25.
Terminbericht
Die Revision des Beklagten war im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht erfolgreich.
Die bisherigen Feststellungen des Landessozialgerichts tragen nicht die Verurteilung des Beklagten zur Feststellung eines Grads der Behinderung beim Kläger von 80 ab dem 31. Juli 2018 und von 90 ab dem 25. März 2019. Zwar hat das Berufungsgericht die beim Kläger bestehende Hämophilie A zu Recht Teil B Nummer 16.10 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zugeordnet und die Grad der Behinderungs-Bewertung nach dem Entwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Sechsten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung von 2018 seiner Entscheidung nicht zugrunde gelegt. Soweit es jedoch die Folgen der beim Kläger festgestellten Einschränkungen ausschließlich nach dem Grad der Restaktivität des antihämophilen Globulins ohne Berücksichtigung des medizinisch notwendigen Therapieaufwands und die daraus resultierende Einschränkung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bewertet hat, hat es auch nach den Vorgaben der nunmehr ab dem 3. Oktober 2025 anzuwendenden Sechsten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 29. September 2025 den aktuellen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nur unvollständig berücksichtigt. Denn bei Störungen der Gerinnungsfunktion mit Blutungsneigung ist neben dem Aktivitätsgrad der Gerinnungsfaktoren im Wesentlichen auf die Häufigkeit der Blutungsereignisse abzustellen.
Diese sich bereits aus dem Entwurf zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung von 2018 ergebenden aktuellen medizinischen Erkenntnisse des Sachverständigenbeirats, der das Bundesministerium für Arbeit und Soziales berät und die Fortentwicklung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze vorbereitet , fügen sich ein in die rechtlich verbindliche Gliederung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze und können zur Bewertung der Hämophilie herangezogen werden. Denn Teil B Nummer 16.10 Versorgungsmedizinische Grundsätze berücksichtigt bereits mittelbar den Therapieaufwand über die Unterscheidung einer leichten, mittelschweren und schweren Form der Blutungsneigung unter Orientierung an der Restaktivität des antihämophilen Globulins als Anhaltspunkt. Die insoweit erforderliche harmonisierende Berücksichtigung der neuesten medizinischen Erkenntnisse aufgrund verbesserter Therapiemöglichkeiten bei der Bewertung der Blutungsneigung nach Teil B Nummer 16.10 Versorgungsmedizinische Grundsätze ist auch unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten verfassungsrechtlich geboten und wird vom Landessozialgericht im Rahmen der notwendigen Würdigung der Gesamtumstände bei der Grad der Behinderungs-Bemessung zu berücksichtigen sein.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 39/25.